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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Autoren: Tad Williams
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Größe, wie sie himmlischer Hoheit angemessen war. Martine und Orlando lagen an den beiden Rändern, wo sie für die gut erreichbar waren, die sie pflegten, und hatten immer noch drei bis vier Meter seidene Laken zwischen sich.
    Orlando schlief, doch es sah Renie nicht nach einem gesunden Schlaf aus. Der Atem des starken Mannes ging rasselnd durch seinen offenen Mund ein und aus, und die Muskeln in den Fingern und im Gesicht zuckten. Sie legte ihre Hand auf die breite Stirn, aber fühlte nichts Ungewöhnlicheres als die nackte Tatsache virtueller Taktilität.
    !Xabbu kletterte aufs Bett und berührte das Gesicht des Mannes, aber er schien es aus einem anderen Grund zu tun als Renie, denn er ließ seine feine Affenhand lange dort liegen.
    »Er sieht sehr krank aus«, sagte Renie.
    »Er ist krank.« Der schlanke Mann namens Fredericks blickte von seinem Sitz an Orlandos Seite auf. »Schwer krank.«
    »Was hat er? Ist es etwas, was er sich draußen geholt hat – im RL, meine ich? Oder kommt es daher, daß er in dieses Netzwerk eingetreten ist?«
    Fredericks schüttelte grämlich den Kopf. »Er hat was Schlimmes. Im realen Leben. Irgendeine Krankheit, bei der man schnell alt wird – er hat mir den Namen gesagt, aber ich hab ihn vergessen.« Er rieb sich die Augen; als er weitersprach, war seine Stimme leise. »Ich glaube, im Moment hat er ’ne Lungenentzündung. Er hat gesagt… er hat gesagt, er müßte bald sterben.«
    Renie betrachtete das beinahe comicartige Gesicht des schlafenden Mannes, das breite Kinn und die langen schwarzen Haare. Schon nach der kurzen Bekanntschaft tat ihr der Gedanke seines Todes weh; hilflos und elend wandte sie sich ab. Zu viele Opfer, zu viele leidende Unschuldige, nicht genug Kraft, irgend jemand zu retten.
    Quan Li, die Martines Hand gehalten hatte, stand auf, als Renie um das riesige Bett herumkam. »Ich wünschte, ich könnte mehr für deine Freundin tun. Sie ist jetzt ein wenig ruhiger. Ich dachte daran, ihr zu trinken zu geben …« Sie führte den Satz nicht zu Ende; es war auch nicht nötig. Wie alle anderen mußte Martine in der wirklichen Welt mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt werden. Wenn nicht, konnte weder die Chinesin noch sonst jemand ihr irgendwie helfen.
    Renie setzte sich auf die Bettkante und legte einen Arm um Martine. Die Französin hatte auf dem ganzen Weg zum Schiff kein Wort gesagt, und nachdem sich Sweet William die von Orlando fortgeschleuderte Pistole geschnappt und sie dem Attaché an den Kopf gesetzt hatte, um ihre Beförderung zu erzwingen, war Martine zusammengebrochen. Renie hatte sie mit Quan Lis Hilfe an Bord getragen – um den wuchtigen Orlando zu schleppen, hatten drei Matrosen anpacken müssen –, aber ansonsten fiel ihr nichts ein, was sie hätte tun können. Woran Martine litt, war noch mysteriöser als der Zustand des jungen Mannes.
    »Wir setzen den Kapitän und die Mannschaft in Boote und lassen sie frei«, sagte Renie nach einer Weile.
    »Sind wir genug, um das Schiff zu segeln?« fragte Quan Li.
    »William meint, daß es so ziemlich von allein fährt, aber ich nehme an, wir brauchen ausreichend Leute, um Wache zu halten.« Stirnrunzelnd überlegte sie einen Augenblick. »Wie viele sind wir, hab ich gesagt? Neun?« Sie drehte sich um. !Xabbu kauerte immer noch neben Orlando, die Hände auf dem mächtigen Brustkasten des Mannes gespreizt. Sein Patient schien ein wenig entspannter zu ruhen. »Also, hier drin sind wir zu sechst. Sodann William, obwohl er fast für zwei zählt.« Sie lächelte matt halb Quan Li an und halb still vor sich hin. »Der Robotermann – wie nennt er sich gleich, T-Four-B oder so ähnlich? Und die Frau, die in die Takelage hochgestiegen ist, um Ausschau zu halten. Ja, neun. Außerdem wäre eine komplette Besatzung wichtiger, wenn wir eine Ahnung hätten, wohin wir unterwegs sind …«
    Sie brach ab, als sie merkte, daß der sanfte Druck an ihren Fingern stärker wurde. Martines Augen waren offen, aber immer noch ungerichtet.
    »Renie …?«
    »Ich bin hier. Wir sind auf dem Schiff. Wir sind hoffentlich bald aus dieser Temilúnsimulation draußen.«
    »Ich … ich bin blind, Renie.« Sie preßte die Worte mit großer Anstrengung aus sich heraus.
    »Ich weiß, Martine. Wir werden alles tun, um dir irgendwie …« Ein sehr fester Druck ließ sie innehalten.
    »Nein, du verstehst nicht. Ich bin blind. Nicht bloß hier. Ich bin schon sehr lange blind.«
    »Du meinst… im richtigen Leben?«
    Martine nickte langsam.
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