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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Autoren: Tad Williams
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auch den Anstoß dazu gegeben, daß etwas ganz Erstaunliches geschaffen wurde. Mit solcher Macht könnte ich, glaube ich, mein Volk wahrhaft lebendig erhalten.«
    Renie nickte langsam. »Das ist kein schändlicher Gedanke. Aber was diese Macht betrifft – nun ja, Menschen, die darüber verfügen, schenken sie nicht weiter. Sie behalten sie für sich. Wie sie es von jeher getan haben.«
    !Xabbu entgegnete nichts. Während das letzte Tageslicht verglomm, verweilten sie zusammen an der Reling und sahen zu, wie der Fluß und die Küste ein ununterscheidbarer Schatten unter den Sternen wurden.
     
    Sweet William schien an seiner Rolle ein perverses Vergnügen zu finden.
    »Der reinste Johnny Icepick bin ich.« Er fuchtelte drohend mit der Pistole vor dem Kapitän und dem Marineattaché des Gottkönigs herum, jenem Würdenträger, der sie an der Gangway abgefangen hatte. Die beiden zuckten zurück. »Normalerweise ist das gar nicht meine Nummer, ihr Süßen, aber ich könnte Geschmack dran finden.«
    Renie fragte sich, was den Temilúnis mehr Angst einjagte, die Waffe, oder daß William wie ein Todesclown aufgemacht war. »Wie weit sind wir vom Ende des Gewässers entfernt, weißt du das?« erkundigte sie sich bei dem Kapitän.
    Er schüttelte den Kopf. Er war ein kleiner Mann, bartlos wie alle anderen, aber sein Gesicht zierten schwarze Tätowierungen, und er hatte einen eindrucksvoll großen steinernen Lippenpflock. »Immer wieder fragst du das. Es gibt kein Ende. Auf der anderen Seite dieses Wassers liegt das Land der bleichen Männer. Wenn wir an der Küste weiterfahren so wie jetzt, werden wir die Karibik überqueren«, Renie hörte, wie ihre Übersetzungssoftware einen Sekundenbruchteil stockte, bevor sie den Namen wiedergab, »und ins Reich der Mexicas kommen. Es gibt kein Ende.«
    Renie seufzte. Wenn, wie Atasco gesagt hatte, die Simulation eine definitive Grenze hatte, dann durften die Replikanten das nicht wissen. Vielleicht hörten sie einfach auf zu existieren und tauchten dann auf der »Heimreise« wieder auf, angefüllt mit passenden Erinnerungen.
    Sicher, das gleiche könnte auch für mich gelten. Und wie würde ich das je erfahren?
    Wenn es schon schwerfiel, die Küste anzuschauen und sie für eine rein digitale Realität zu halten, so war es doch noch schwerer, sich den Kapitän und den königlichen Attaché als artifizielle Lebewesen vorzustellen. Eine Küste, und wäre sie voll des üppigsten Pflanzenlebens, ließ sich fraktal erzeugen, auch wenn dieses Maß an Reichtum und Genauigkeit alles in den Schatten stellte, was sie je gesehen hatte. Aber Menschen? Wie konnten selbst die raffiniertesten Programmierkünste, die evolutionsgenauesten KL-Environments eine solche Vielfalt, eine solche scheinbare Authentizität zustande bringen? Der Kapitän hatte schlechte Zähne, die ganz belegt waren, weil er ständig die Blätter irgendeines Krautes kaute. Er trug einen Fischwirbel, offenbar ein beliebtes Schmuckstück, an einer Kette um seinen dicken Hals. Der Attaché hatte ein dunkles Feuermal hinter dem Ohr und roch nach Süßholz-Toilettenwasser.
    »Bist du verheiratet?« fragte sie den Kapitän.
    Er kniff die Augen zusammen. »Ich war mal. Nahm den Abschied, weil sie es wollte, blieb drei Jahre in Quibdò an Land. Ich hielt’s nicht mehr aus und meldete mich wieder. Da verließ sie mich.«
    Renie schüttelte den Kopf. Eine ganz gewöhnliche Seemannsgeschichte, fast schon klischeehaft. Aber die leise Bitterkeit in seiner Stimme, die dem Narbengewebe über einer alten Wunde glich, verriet, daß er sie unbedingt glaubte. Und jede einzelne Person in dieser Simulation, in der ganzen unabsehbaren Zahl von Simulationen, aus denen dieses Anderland bestand, hatte ihre eigene Geschichte. Jede hielt sich für lebendig und einzigartig.
    Es war schlicht nicht zu fassen.
    »Hast du eine Ahnung, wie man dieses Schiff steuert?« fragte sie Sweet William.
    »Ganz simpel.« Er grinste faul und reckte sich. Versteckte Glöckchen bimmelten. »Es hat so einen Griff. Drücken, ziehen, vorwärts, rückwärts – könnt ich im Schlaf machen.«
    »Dann befördern wir diese beiden und den Rest der Mannschaft von Bord.« Das heftige Auffahren des Attachés verdutzte sie einen Moment, bis sie das Mißverständnis erkannte. »In den Rettungsbooten. Es scheint jede Menge zu geben.«
    »Aye, aye.« William salutierte zackig. »Jederzeit, Frau Admiral.«
     
    Das Bett in der weitläufigen Prunkkabine des Höchsterhabenen hatte eine
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