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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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hereinkommen, und sie hätte ihm nichts - nichts! - entgegenzusetzen als ihre Langsamkeit. Ihre unendliche, schläfrige Langsamkeit. Sie wurde müde, so müde, aber sie wollte um keinen Preis einnicken; und, wie sie so kämpfte, da sah sie es schon, sie ahnte es vielmehr: ein Leuchten und Glühen, das von sehr weit her kam. Es bewegte sich zielstrebig direkt auf sie zu, wurde gelb und hell und schneller, und auf einmal war das Bett weg, auf dem sie bisher gekauert hatte, und auch das Haus verschwand, und sie stand in ihrem grotesken Nachthemd diesem Meeresungetüm, diesem Koloß gegenüber. Nein, kein Koloß, es war eher...
    Und dann wachte sie auf, Gott sei Dank.

    Sie war allein in einem großen Raum mit sehr hohen Wänden. Jedenfalls kamen sie ihr viel höher vor als gestern abend. Da hatte sie sich allerdings vor Müdigkeit kaum umgesehen. Und die Möbel? In der Dämmerung konnte sie keine entdecken - und seltsam, auch keine Tür, keinen Ausgang. Von oben wurde sie beobachtet, das spürte sie. Ein Schatten in der Form eines menschlichen Profils fiel schräg auf die Wand. Der Schattenmund sprach.
    »Oi-moi, tuti rätschos kaiwani! Blok-blok!«
    Sie verstand kein Wort. Sie beeilte sich, alles zu notieren. Das schien der Stimme nicht zu gefallen.
    »Tara kenzol raini-weru? Nok-trak! Tiri trak trak!«
    Der Mund des Schattens wuchs, wurde zum Schlund,
zum Tor, zum Riesenkrater, während der Schatten insgesamt seine Größe nicht veränderte.
    »Ten-ten kra-kra, suri-suri noi-noi! Rara boike lalu boike krentz-tor. Torr!«
    Himmel, was hatte sie nur getan, diesen Kerl so zu erbosen? Die Stimme dröhnte jetzt heiser, kam näher, sie geriet beim Mitschreiben durcheinander. Deutsch oder Lautschrift? Und wenn Lautschrift, welche? Ihre Finger zitterten. Sie hatte das doch gelernt. Sie mußte doch wissen, wie das ging.
    »Trei-tri mole-mole har-har?«
    Es griff nach ihr. Sie wehrte sich, sie schrie, sie fiel.
    Sie wachte auf.

    Goldgelbe Vorhänge tauchten den Raum in ein warmes Licht. Sie starrte hinauf an eine hell getäfelte Decke. Ein Dachstübchen. Heller Tag. Richtig. Sie war auf der Insel. Sie war Julia Völcker, und sie war gestern abend hier angekommen, um hier zu arbeiten, und...-
    »Tiri-tiri trak-trak!«
    Entsetzt sprang sie aus dem Bett. Dann ließ sie sich erleichtert wieder auf die Matratze fallen. Ein Vogel, ein blöder Dorfvogel hatte sie so erschreckt. Er war mit seinem Krächzen und Piepen in ihre Träume eingedrungen und hatte sich da ein Nest gebaut. Na großartig! Sie stand energisch auf, riß die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. Ein Orchester spielte auf. Eine Vielzahl von Vogelstimmen tschilpten und fiepten plötzlich auf sie ein. Der grelle Alptraumvogel war wohl nur der lauteste in einer ganzen Horde gewesen. Es mußten Unmengen von Vögeln sein. Nur sehen konnte sie nicht einen einzigen. Sie schaute vom Dachstübchen aus in einen offenbar etwas verwilderten Garten. Betagte Bäume spendeten sicher auch im Sommer ausreichend Schatten. Unter pummeligen Sträuchern moderte
Laub vom vergangenen Jahr. Der Rasen leuchtete satt und grün, als habe er nicht bereits einen ganzen, langen Sommer hinter sich. Alte Himbeerhecken begrenzten das Grundstück. Mehrere Schuppen verrieten, daß hier keine gelegentlichen Besucher wohnten, sondern Menschen, die den Garten auch nutzten. Besen lehnten da, Schaufeln, ein roter Rasenmäher wartete aufs Altenteil. Von den Bäumen kannte sie nur ein paar: Fichten auch hier, wie unten am Anleger. Ein paar Apfelbäume. Zarte Birkenzweige fächelten Licht und Morgenkühle zu ihr herüber. Gar nicht so schlecht.
    Sie fand eine Kaffeemaschine.

    Eine Stunde später war Julia Völcker unterwegs, etwas unsicher, aber voller Tatendrang. Los jetzt! Aktion Brötchenholen, sagte sie zu sich selbst. Wir erkunden das Revier, und dann geht es an die Arbeit, Herr Ladestein!
    An Tagen wie diesen ging sie mit ihrem Dichter um wie früher, in der Kindheit, mit den Indianern. »Herr Ladestein«, Hansjörg, ihr Dichter, wurde zu einer Art Winnetou für sie. Ein heimlicher Verbündeter, ein Freund, unsichtbar, aber mächtig. Sie hatte sich das als Kind angewöhnt, als ihr kleiner Bruder noch zu jung und zu dumm zum Mitspielen war, und später beibehalten, weil er meistens krank war. Seit Julias Mutter beschlossen hatte, daß »die wilden Jahre« nun vorbei seien, waren andere Kinder zu Hause nicht allzu gern gesehen. Mutter liebte es nicht, wenn ihr alles durcheinandergeriet. Julia
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