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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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fragte sich oft, wozu ihr Haus eigentlich so groß sein mußte, wenn es sich doch nur an Weihnachten und zu den Geburtstagen einigermaßen mit Menschen füllte und offensichtlich hauptsächlich dazu diente, sie und den kleinen Bruder zu Tode zu erschrecken, wenn sie nachts alleine zur Toilette oder zum Kühlschrank schleichen mußten... Mit dem Haus war Julia nicht gut Freund, also zog sie
es vor, draußen zu spielen, denn draußen, da lebten ihre Indianer. Und bald gewöhnte sie sich an, ganz selbstverständlich mit ihnen zu sprechen. Auf diese Weise hatte sie immer die angenehmste Gesellschaft, die Indianer verstanden sie vollkommen, hatten unendlich viel Zeit und Geduld. Und sie würden sie beschützen, wenn es darauf ankam. Das konnte jederzeit sein, denn die schändlichen Irokesen hatten gleich nebenan in der Kiefernschonung ihre Wigwams aufgeschlagen, verläßliche Kundschafter hatten es berichtet. Das Wichtigste aber waren die Gespräche am Lagerfeuer, wenn sie die Friedenspfeife herumgehen ließen und sich gegenseitig die Welt erklärten. Ihre Indianer ersetzten Julia alles: den kleinen Bruder, der nicht spielen mochte. Die Mutter, die sich nie schmutzig machen wollte, nie zupackte. Den abwesenden Vater. Die zimperlichen Freundinnen, die nur an »Culture Club« und später an Aerobic dachten. Julia hatte den Wald und die Räuber. Die Indianer und die Langsamkeit.
    Und etwas von einem solchen Indianer, einem Winnetou, steckte auch in Ladestein. Julia mochte ihn besonders, seit sie ein paar Indianergedichte bei ihm entdeckt hatte. Sie waren keineswegs gut, aber darauf kam es ihr in diesem Fall nicht an. Sie wußte, daß ehrliche Zuneigung meist die schlechtesten Verse hervorbringt.
    Freunde sind Mangelware
In dieser nüchternen Zeit
Nur die alten Indianergeschichten
Sagen was bleibt

    Schlachten in Christbaumschonung
Und Narben am Knie
Limonade mit Blutsbrüdern trinken
Das vergessen wir nie

Vergessen nicht Lagerfeuer
Das Großmutter erlaubt
Vergessen nicht Kunsthaarperücke
Von böser Nachbarin geraubt

    Erbeutet am Kamin
Ein zotteliges Bärenfell
Welche Gefahr wir überstanden
Vaters Altmännergebell
    Indianer, dachte Julia, Indianer, das sind die Schutzengel für Kinder, die nicht bewahrt und nicht geschont werden wollen. Gute Geister, die immer da sind, und Narben am Knie sind eher ein Zeichen für ihre Anwesenheit als ein Zeichen dafür, daß irgendein hohler Schutzengel für eine Sekunde nicht aufgepaßt hat, wie ihr Tante Amelie hatte weismachen wollen. Narben am Knie waren Ehrenzeichen, ihre waren mitgewachsen im Laufe der Jahre und hatten so eine respektable Erwachsenengröße angenommen. Julia war sehr einverstanden damit.
    Und Ladestein-Winnetou war jetzt folglich mit von der Partie.

    Sie öffnete die Haustür, machte einen Schritt ins Freie, blinzelte, rümpfte die Nase. Würzig und intensiv drangen Gerüche auf sie ein und vertrieben die letzten Erinnerungen an Zahncreme und Milchkaffee. Es roch nach Altweibersommer, nach Abschied von der Augusthitze und nach Abschied von langen Abenden in Biergärten - nach Abschied überhaupt. Und Feuchtigkeit roch Julia und verschiedene Arten von Laub. Das Meer, das doch gleich um die Ecke liegen mußte? Sie spürte es, wenn sie sich die Lippen leckte. Eigenartig, das Meer zu schmecken, bevor man es sah! Und es schmeckte keineswegs nur nach Salz, ein Pflanzenaroma
mischte sich darunter, etwas Weiches, Grünes, Moderiges, das Aroma von Wurzeln. Die Morgensonne war nebelverhüllt, aber sie war da, und sie wärmte.
    Gutgelaunt schnappte Julia ihren Einkaufsbeutel, an die Lage des kleinen Kaufmannsladens konnte sie sich ungefähr erinnern, daran waren sie gestern abend vorbeigekommen. Gestern abend! Sie schämte sich wieder einmal, schob den Gedanken aber zur Seite.
    Schon von weitem sah sie »Erikas Laden«, das Zentrum von Stiftsdorf. Anderenorts hätte man das kleine, geduckte Geschäft womöglich übersehen, aber hier war es weit und breit das einzige Gebäude, das ein Schild aufwies. Und au ßerdem gingen recht viele Menschen darauf zu, in viel gemächlicherem Tempo als Julia. Sie merkte schon: Ihre Geschwindigkeit war falsch, so sehr beeilte man sich hier allenfalls, um sich vor einem Unwetter noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Die Leute hier gingen zielstrebig, aber nicht eilig. Wirklich geschäftig sahen nur die kleinen Hunde aus, die, offenbar wichtige Termine im Kopf, mit der Nase am Boden emsig über die Wege schnürten. Sie
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