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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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angelehnt war. Er wusste aber nicht, ob er sie selbst geöffnet hatte oder nicht. Er war so nervös, dass seine Finger zu zittern begannen.
    Vielleicht unterzuckere ich auch nur, sagte er sich selbst, und holte sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Orangensaft. Er goss sich ein großes Glas ein, hatte aber dann Mühe, das kalte Getränk zu schlucken. Es war, als würde ihm etwas den Hals zuschnüren.
     
    Lennart Gaiser konnte es kaum aushalten. Er war angetreten, um unschuldige Kinderleben zu retten, und nun wurde er selbst schuldig. Er hatte eine Stimme in sich, die verlangte von ihm, das Kind sofort wieder freizulassen, und eine andere, die das für völlig unmöglich erklärte.
    Er saß fest. Er konnte nicht mehr wirklich handeln. Er musste sich selbst eine Buße auferlegen. Den Herrn um Verzeihung bitten.
    Ja. Das war die Lösung. Es schien plötzlich ganz klar vor ihm zu stehen, wie eine Erscheinung. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Er konnte die Dinge verstehen. So wurde alles rund. Er musste sich selbst bestrafen, um allen zu zeigen, dass er seine Prinzipien auch auf sich selbst anwendete. Das würde ihn wieder zurückbringen in die vollkommene Reinheit.
    Der Rächer des Herrn musste Schlimmes tun, um Gutes zu erreichen. Die Hand Gottes war beschmutzt worden und musste wieder reingewaschen werden.
    Er hatte noch genügend Steine da. Er brauchte nicht viel. Nur ein kleines Eckchen. Er würde sich nicht so viel Raum gewähren können wie allen anderen. Er war bescheidener. Es würde nicht einmal reichen, um sich hinzusetzen. Er würde das Martyrium stehend ertragen. Er, der treueste Diener seines Herrn.
    Er begann in einem Glückstaumel ein altes Kirchenlied zu summen. Es war gar nicht so leicht, sich in so einem kleinen Zimmer einzumauern. Er musste die Steine mit in seine Zelle nehmen und er hatte auch keinen zusätzlichen Schnellbinder mehr. Die Enge seiner Zelle behinderte seine Bewegungen. Aber er schaffte es, obwohl er sich dabei einige Hautabschürfungen zuzog.
    Auch für sich ließ er ein kleines Luftloch mit einem Röhrchen. Es hätte ihm etwas ausgemacht, jetzt sofort, einfach so, zu sterben und vor seinen Richter zu treten. Der weltlichen Gerichtsbarkeit wollte er sich auf jeden Fall entziehen. Sie hatten
kein Recht. Sie, die so lange das Unrecht legitimiert hatten, besaßen nicht das geringste Recht, über ihn zu urteilen. Das wäre ja geradezu blasphemisch gewesen. Er wollte hier sterben, aber seine Seele brauchte noch Zeit. Er war noch nicht so weit. Er wollte in Ruhe meditieren und sich vorbereiten auf das, was ihn erwartete. Und er wollte bereuen. Denn auch er war schuldig geworden.
    Vielleicht war es das Schicksal der Menschen, schuldig zu werden, seitdem sie aus dem Paradies vertrieben worden waren.
     
    Nach der stürmischen Pressekonferenz wollte Weller mit Ann Kathrin sprechen. Er rief sie zu Hause im Distelkamp an. Sie saß bereits mit Rita Grendel auf der Terrasse.
    Rita ließ sich in Ruhe die Geschichte aus Gelsenkirchen und Wiesbaden erzählen. Dabei fütterte sie Ann Kathrin mit ihrem Apfelkuchen. Ann Kathrin aß mit solchem Heißhunger, dass Rita sich fragte, wo die schmale Frau das alles ließ.
    Als Weller anrief, ging Rita ran und hielt Ann Kathrin das Telefon ans Ohr.
    »Ich wollte nur fragen, wie es dir geht, Liebste.«
    Sie antwortete nicht darauf, sondern stellte die Gegenfrage: »Seid ihr weitergekommen? Gibt es Hinweise?«
    »Die Menschen sind natürlich sehr aufgeregt. Hier gehen eine Menge Anrufe ein. Ein Vater aus Jever vermisst seine Frau und sein Kind, aber das passt nicht in sein Muster.«
    »Er hat sein Muster längst durchbrochen, Frank.«
    »Wie meinst du das?«
    »Der Frauenarzt passte auch nicht in sein Muster.«
    »Ja. Er hat sich seinen eigenen Vater geholt. Und wir wissen nicht, wie er jetzt weitermacht.«
    »Offensichtlich hat er alle Frauen auf seiner Liste abgearbeitet oder warum hat er sich sonst seinen Vater geholt? Habt ihr
euch das mal gefragt? Ich habe keine Ahnung, was in seinem kranken Hirn vorgeht, aber sein Muster ist nicht mehr sein Muster. Wenn überhaupt, dann hat er ein neues Muster.«
    »Du meinst, wir sollten …?«
    »Jever liegt in seinem Radius. Wenn ihr nicht hinfahrt, mache ich es.«
    »Um Himmels willen, Ann! Bleib bloß zu Hause, ruh dich aus. Du hast Schlimmes hinter dir. Geh doch zu Rita und Peter. Es ist nicht gut für dich, wenn du jetzt allein bist.«
    »Tolle Idee. Wer hat dich denn gerade am Telefon begrüßt?«
    Weller
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