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Oscar

Oscar

Titel: Oscar
Autoren: David Dosa
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keinen Zweifel, wer die Zügel in der Hand hält. Mary ist für alle Patienten eine echte Mutterfigur, und sie tut alles für ihre Schutzbefohlenen. Nichts auf der Station geschieht, ohne dass sie davon weiß. Selbst ihre direkten Vorgesetzten beugen sich nicht selten ihren Wünschen.
    So früh am Morgen sind die Türen der Zimmer normalerweise noch geschlossen. So auch die Tür von Zimmer 322 , in dem Mary gerade bei der Morgenpflege einer Patientin war. Ich klopfte an, und eine gedämpfte Stimme bat mich zu warten. Um mir die Zeit zu vertreiben, studierte ich die neben Brenda Smith’ Zimmer angebrachte Pinnwand mit Familienfotos. Ganz oben klebte ein Zettel, auf dem in Blockschrift der volle Name und das Geburtsdatum der Patientin standen: GERTRUDE BRENDA SMITH , 21 . JANUAR 1918 . Jeder Buchstabe und jede Zahl waren aus buntem Bastelpapier ausgeschnitten und sorgfältig mit Glasperlen und anderem Schmuck verziert, zweifellos das liebevolle Werk eines Enkelkinds. Darunter hing das Schwarzweißporträt einer schönen jungen Frau Anfang zwanzig. Ihr dunkler Lippenstift akzentuierte das bleiche Gesicht, sie trug ein modisches Sommerkleid im Stil der 1940 er Jahre. Am einen Arm hatte sie einen gut aussehenden Mann in Marineuniform, am anderen hing ein Sonnenschirm. Ich stellte mir vor, wie die beiden an einem warmen Sommernachmittag kurz nach dem Krieg im Park spazieren gingen. An den Gesichtern sah man, wie glücklich und verliebt sie waren.
    Als Nächstes kam ein mehrere Jahre später aufgenommenes Foto desselben Paars, begleitet von zwei kleinen Kindern. Es war eine verblasste Farbaufnahme. Das Haar des Mannes war schon etwas schütter geworden und hatte erste graue Strähnen. Dieses Bild drückte eine andere Erwartungshaltung aus; die beiden waren kein verliebtes junges Paar mehr, sondern stolze Eltern, die an die Zukunft ihrer Familie dachten.
    Das letzte Bild der Sammlung zeigte Mrs.Smith in späteren Jahren, sorgfältig gekleidet, das silbergraue Haar säuberlich unter einem geschmackvoll ausgewählten Hut verborgen. Ihr Mann war offenkundig schon gestorben, doch sie war von mehreren Generationen ihrer Familie umgeben. Im Hintergrund hing ein Spruchband, das verkündete: »Alles Gute zum 80 ., Grandma!« Inzwischen waren acht Jahre vergangen.
    Ich klopfte erneut und trat ins Zimmer, in dem Mary sich um die Patientin kümmerte. Diese war nicht mehr die lebhafte, gut gekleidete Großmutter auf dem Geburtstagsfoto. An deren Stelle befand sich ein kleineres Ebenbild der Frau, die es einmal gegeben hatte. Bis ich mit Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Alzheimer-Krankheit zu tun hatte, war mir der Ausdruck »ein Schatten ihrer selbst« wie ein Klischee vorgekommen. Nun sah ich genau das bei Mrs.Smith und vielen anderen Patienten. Hinter dem Schatten war jedoch immer noch die Substanz der Person zu erkennen, selbst wenn diese mich nicht mehr zu sehen schien.
    »Brauchen Sie mich?«, fragte Mary, anscheinend ein wenig verärgert über die Störung.
    »Ja«, erwiderte ich, »ich muss wissen, wen ich heute besuchen soll.«
    »Lassen Sie mich hier fertig werden, dann komme ich zum Stationszimmer.«
    Als ich mich zum Gehen wandte, richtete Mary sich aus ihrer gebückten Haltung am Bett auf und wölbte den Rücken, um sich zu entspannen.
    »Moment noch, David, ich glaube, ich werde hier noch eine Weile beschäftigt sein. Wie wär’s, wenn Sie schon einmal einen Blick auf Sauls Bein werfen. Es ist gerötet und sieht ziemlich schlimm aus. Ich glaube, er hat wieder eine Hautentzündung.«
    »In Ordnung. Ich sehe mir die Sache gleich mal an.«
    Ich verließ das Zimmer und machte mich auf die Suche nach Saul Strahan, einem Achtzigjährigen, der schon viele Jahre bei uns lebte. Als ich ihn fand, trug er sein übliches Outfit, ein Sweatshirt mit dem Logo der Boston Red Sox samt Baseballmütze, und saß wie üblich in seinem Fernsehsessel. Über den Bildschirm flimmerte eine Morgentalkshow.
    »Na, was läuft gerade?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
    Ich setzte mich neben ihn und warf einen Blick auf den Fernseher. Eine junge Schauspielerin beklagte sich beim Moderator über die Paparazzi, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.
    »Jeder hat so seine Probleme, nicht wahr, Saul?«
    Ich betrachtete ihn genauer. Zusätzlich zu seinem fortschreitenden Alzheimer hatte Saul vor vier Jahren einen üblen Schlaganfall erlitten, der ihn seiner Sprache beraubt hatte. Seine Augen jedoch blickten mich voller Leben an, und
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