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Oscar

Oscar

Titel: Oscar
Autoren: David Dosa
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besser war, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
    »Manche Katzen sind eben aggressiv«, sagte sie nach kurzer Pause. »Genau wie manche Menschen. Aber wegen einer schlechten Erfahrung kann man doch nicht alle Katzen verwünschen! Außerdem hätten wir keine Katzen hier, wenn auch nur die geringste Gefahr bestünde, dass sie jemanden verletzen. Selbst wenn es sich um einen Arzt handelt!«
    »Sehr witzig.« Ich wandte mich wieder Oscar und Mrs.Davis zu. »Wissen Sie, vielleicht mag er Patienten, die sich nicht mehr rühren, weil die ihm keinen Ärger machen.«
    »Ich weiß nicht, David. Ich glaube wirklich, an der Sache ist mehr dran.«
    »Das heißt also, Mrs.Davis wird heute sterben?«
    »Vielleicht. Warten wir ab.«

    Als ich später vom Pflegeheim zu meiner Privatpraxis fuhr, kam mir wieder der Kater in den Sinn, der im Haus meiner Großmutter gelebt hatte. Sein Name war Puma, und das passte ganz ausgezeichnet. In meiner Erinnerung war er ein mindestens fünfzehn Kilo schwerer Koloss, doch wie jeder Sportangler bestätigen kann, nimmt mit der Zeit alles größere Dimensionen an. Jahrelang hatte er mich jedes Mal terrorisiert, wenn ich »sein« Haus betrat. Als ich an seine vor Hass lodernden Augen dachte, kam es mir vor, als sei meine Angst vor Katzen keineswegs irrational.
    Mitten in diesen Gedanken läutete mein Mobiltelefon. Es war Mary.
    »Mrs.Davis ist gestorben«, sagte sie. »Wenige Minuten nachdem Sie abgefahren sind.« Es war erst eine Stunde her, dass ich im Zimmer der Patientin gestanden und ihre Atemzüge beobachtet hatte. Obwohl ich so etwas schon seit vielen Jahren kannte, empfand ich noch immer ein Gefühl der Demut, wenn ich den Tod eines Menschen aus der Nähe erlebte.
    »Hören Sie, Mary«, sagte ich. »Machen Sie bitte nicht zu viel aus dieser Sache mit dem Kater. Mrs.Davis wäre ohnehin bald gestorben. Ihre Diagnose war äußerst schlecht.«
    »Das stimmt schon, aber es ändert nichts daran, dass Oscar sich regelmäßig so verhält. Selbst manche von den Angehörigen sprechen schon darüber.« Sie schwieg einen Augenblick. »David«, sagte sie dann, »ich glaube wirklich, der Kater weiß Bescheid.«

[home]
    Wer eine Katze am Schwanz zieht,
lernt etwas, das man
auf keine andere Weise lernen kann.
    Mark Twain
    2
    H atten Sie schon einmal einen wirklich schlechten Tag? Einen, der Sie dazu gebracht hat, alles zu hinterfragen, was Sie bisher im Leben getan haben, und an dem Sie sich Sorgen über alles machten, was die Zukunft bringen könnte?
    So einen Tag erlebte ich etwa ein halbes Jahr nach der erwähnten Begegnung mit Oscar. Ich stand in meinem Büro und starrte aus dem Fenster. Bei klarem Wetter bietet sich von dort aus ein spektakulärer Blick, besonders im Sommer, wenn das blaue Wasser der Narragansett Bay unter einem Himmel leuchtet, über den Schäfchenwolken ziehen. Im Januar hingegen wirkt dieselbe Szenerie oft kalt und öde, und das Wasser ist so abweisend wie eine Betonmauer. So war es auch an jenem Tag, was ausgezeichnet zu meinem Gemütszustand passte.
    Mein Blick war auf einen Tanker geheftet, der im Hafen seine Fracht entlud, doch ich nahm das Geschehen kaum wahr. Stattdessen grübelte ich über die Ereignisse der letzten Tage nach, wobei besonders eine Szene immer wieder in mir ablief wie eine schadhafte DVD . Drei Wochen vorher hatte ich erfahren, dass ich in die Endauswahl für einen bedeutenden Forschungspreis gekommen war, der von einer angesehenen New Yorker Stiftung verliehen wurde. Bei so etwas geht es mir nicht so sehr um den finanziellen Aspekt; meine Forschungen im Bereich der Geriatrie und der Pflegeheimmedizin sind das, was mich aufrechterhält, und ein solcher Preis bedeutet mir mehr als nur eine Anerkennung meiner Arbeit. Damals sah ich ihn als Bestätigung von allem, was ich tat.
    Zwei Tage zuvor war ich schließlich mit dem Zug nach New York gefahren, um mein Projekt persönlich vorzustellen. Die Besprechung war gut gelaufen; jedenfalls hatte ich das gedacht. Ich hatte sie voll Zuversicht und sogar mit ein wenig Stolz verlassen. Der Preis gehörte mir, das spürte ich. Schließlich hatte ich unermüdlich an der Bewerbung gefeilt und dafür nach vielen harten Arbeitstagen und der Erfüllung meiner familiären Pflichten bis spät in die Nacht am Schreibtisch gesessen. Dieser ganze Aufwand musste sich doch auszahlen. Bestimmt erkannte das Komitee, wie wichtig meine Forschungen waren, und entschloss sich, sie zu unterstützen. Warum auch nicht? Sie hoben sich ja wirklich
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