Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oscar

Oscar

Titel: Oscar
Autoren: David Dosa
Vom Netzwerk:
taktvoll nicht weiter auf meine Bemerkung ein.
    »Übrigens, damit ich’s nicht vergesse – Oscar war da.«
    »Wo?«
    »Auf dem Bett. Oscar war da, als Ellen gestorben ist … genau wie bei allen anderen in letzter Zeit.«
    »Wie bitte?«
    »Sie wissen schon, Ihr Freund, der Kater. Oscar macht immer noch seine Besuche. Das hat er nun schon fünf oder sechs Mal getan, seit Mrs.Davis gestorben ist.«
    An jedem anderen Tag hätte ich wahrscheinlich einfach gelacht, so wie ich es ein halbes Jahr zuvor getan hatte. Aber ein besonders schlechter Tag regt manchmal dazu an, vertraute Vorstellungen zu überdenken, und das tat dieser Tag eindeutig.
    Während Mary mich an die beträchtliche Liste verwaltungstechnischer Aufgaben erinnerte, die ich bei einem Sterbefall zu erledigen hatte, stellte ich mir vor, wie Oscar bei Ellen und deren Tochter Kathy gesessen hatte.
    »Wo ist er jetzt eigentlich?«, fragte ich.
    »Wer? Oscar? Ach, der treibt sich immer noch in Ellens Zimmer herum. Der Bestatter war noch nicht da. Nur der Hospizpfarrer ist gerade gekommen, aber Oscar sitzt weiterhin auf Ellens Bett. Wissen Sie, wahrscheinlich sollten Sie Kathy persönlich kondolieren. Sie mag Sie nämlich sehr. Wie wär’s, wenn Sie herkommen und hallo sagen?« Mary lachte. »Obwohl – wenn ich noch mal darüber nachdenke, sollten Sie angesichts Ihrer Laune lieber bleiben, wo Sie sind.«
    Ich musste ebenfalls lachen. Durch nichts werden die eigenen Sorgen so gut in ein neues Licht gerückt wie durch die Erfahrung, dass jemand anders einen geliebten Menschen verloren hat. Mary wusste darüber besonders gut Bescheid, denn kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes hatte ihr Mann sich das Leben genommen. Seither spielte sie die schwierige Rolle einer alleinerziehenden Mutter, nur dass sie sich inzwischen nicht mehr um ihre eigenen Kinder kümmerte, sondern um unsere Patienten, die quasi wieder zu Kindern geworden waren. Was mich anging, so waren selbst meine Eltern noch am Leben, und meine Frau und meine Kinder waren gesund und munter. Dafür hatte ich mit meinen eigenen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, und das hatte mich gelehrt, jeden Tag zu nutzen.
Carpe diem,
wie die alten Römer sagten.
    Wir sprachen noch eine Weile über Mrs.Sanders und ihre Familie, bevor ich auflegte. Zum ersten Mal an diesem Morgen dachte ich an jemand anders als an mich.
    Der Tod von Ellen Sanders kam zwar nicht überraschend, aber doch ziemlich unerwartet.Es waren keine konkreten Anzeichen dafür erkennbar gewesen, dass sie dem Tod so nahe war. Sie hatte weder üble Infektionen noch irgendwelche anderen Erkrankungen gehabt, die lebensverkürzend wirkten. Abgesehen von ihrer Demenz war sie bei bester Gesundheit gewesen.
    Während also niemand vom Personal, ich eingeschlossen, geahnt hatte, dass Ellen bald sterben würde, hatte Oscar es womöglich irgendwie gespürt. Angesichts meiner Wissenschaftsgläubigkeit und meiner intellektuellen Überheblichkeit wehrte ich mich zwar einerseits gegen die Vorstellung, ein simpler Kater könnte mehr wissen als ein Haufen medizinischer Fachleute, aber andererseits versetzte mich diese Möglichkeit in eine seltsam freudige Erregung.
    Oder war es doch reiner Zufall, dass Oscar gerade dann in ein Zimmer gekommen war, wenn jemand darin im Sterben lag? Ich musste an einen Ausspruch von Einstein denken: »Ein Zufall ist ein kleines Wunder, bei dem Gott sich entscheidet, anonym zu bleiben.«
    Spannend war es auf jeden Fall, was sich da abspielte. Ich griff nach meinem Mantel und ging hinüber zum Pflegeheim, entschlossen, mehr über das Verhalten unseres geheimnisvollen Katers zu erfahren.

[home]
    Welch größeres Geschenk kann es geben
als die Zuneigung einer Katze?
    Charles Dickens
    3
    M itzuerleben, wie ein geliebter Mensch langsam verfällt, ist schwer. Die meisten Angehörigen finden mit der Zeit Methoden, es zu akzeptieren und damit umzugehen. Manchen gelingt das sogar mit Souveränität und Würde. So erzählte Mary gern von einem Mann, der auch angesichts der Demenz seiner Mutter immer sein fröhliches Wesen behalten hatte.
    »Wie schaffen Sie das nur?«, hatte sie ihn eines Tages gefragt.
    »Ach, von meiner Mutter habe ich mich schon vor langer Zeit verabschiedet«, erwiderte er. »Inzwischen habe ich mich regelrecht in diese kleine alte Dame da verliebt!«
    Das war allerdings eine sehr fortgeschrittene, reife Reaktion. Viele Menschen wenden sich ab, wenn ihre Eltern oder Ehegatten dement werden. Vielleicht liegt das an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher