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Oscar

Oscar

Titel: Oscar
Autoren: David Dosa
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vielen Dank, Ida.«
    »Gern geschehen.«
    Sie sah mir wieder forschend ins Gesicht.
    »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte sie schließlich. »Sie haben etwas auf dem Herzen, was Sie mir nicht sagen.«
    »Es ist einfach kein guter Tag für mich, Ida.«
    Sie lächelte. »Ach, davon werden Sie im Leben noch viele haben. Vergessen Sie die Sache einfach. Meistens ist es nicht halb so schlimm, wie man meint. Fahren Sie nach Hause, geben Sie Ihrer Frau und Ihren Kindern einen Kuss, trinken Sie ein Bier, gehen Sie früh zu Bett, und dann werden Sie sich morgen beim Aufwachen schon viel besser fühlen.«
    »Ist das ein Rat oder ein Befehl?«, fragte ich.
    »Ein Befehl natürlich!«

    Während ich mit dem Aufzug in den zweiten Stock fuhr, dachte ich an Idas scharfen Verstand und ihre verbogenen Hände. Ihr Zustand bedrückte mich. Wenn ich ehrlich mir selbst gegenüber war, wozu sich dieser Tag besonders gut zu eignen schien, dann lag das an einer bestimmten Verbindung zwischen Ida und mir. Wenn ich sie sah, hatte ich manchmal das Gefühl, in meine eigene Zukunft zu blicken. Ich starrte auf meine Hände und studierte meinen vergrößerten linken Daumen. Es war nun schon zehn Jahre her, seit man bei mir eine entzündliche Arthritis diagnostiziert hatte, die der Erkrankung Idas ähnelte. Ich betrachtete mein geschwollenes rechtes Handgelenk und dachte an die Schwellung in meinem linken Knie und Knöchel. Dank einer komplizierten Medikation, bestehend aus Tabletten und Injektionen, taten die Gelenke mir nicht mehr so weh wie früher. Die verräterischen Anzeichen einer Entzündung waren jedoch geblieben, und ich wusste, dass meine Gelenke mir irgendwann den Dienst verweigern würden, wie sie es bei Ida getan hatten. Gut möglich, dass meine Beine mich nicht in die sprichwörtlichen goldenen Jahre trugen und dass meine Arme einmal nicht in der Lage sein würden, meine noch nicht geborenen Enkelkinder zu halten.
    Ein Frösteln überkam mich, als ich an Ida und das Elend dachte, nicht mehr fähig zu sein, das zu tun, was man einmal gerne getan hat. Ich ließ mich von diesem Gefühl ergreifen, nahm wahr, wie das Selbstmitleid in mir aufstieg wie ein Fieberschub, und schüttelte es dann von mir ab. Da fiel mir Kathy ein, die erkannt hatte, wie wichtig es war, beim Kampf gegen eine chronische Erkrankung auf kleine alltägliche Erfolge zu achten. Ich hatte bereits mehr als ein Jahrzehnt lang Zeit gehabt, über eine solche Erkrankung in meinem eigenen Leben nachzudenken, und wusste nun, dass Kathy recht hatte. Es gab wichtigere Dinge im Leben als Beförderungen und Forschungspreise. Es gab die alltäglichen Siege, die Geschenke des Hier und Jetzt. Konnte ich mich nicht, statt mir Sorgen bezüglich meines Zustands im Alter und des Umgangs mit meinen Enkelkindern zu machen, jetzt daran freuen, meine neugeborene Tochter die Treppe hinaufzutragen und mit meinem Sohn Fußball zu spielen? Ich war immer noch in der Lage, mich zu bücken und mir selbst die Schuhe zu binden. Da konnten die Probleme der Zukunft gerne warten.

    Als ich in der zweiten Etage aus dem Aufzug trat, geriet ich direkt in eine kleine Versammlung, die sich vor dem Stationszimmer gebildet hatte. Mehrere Helferinnen und eine Hospizschwester waren in ein intensives Gespräch vertieft, das sich, wie ich bald feststellte, um Oscar drehte.
    »Da hat er es also wieder geschafft, dabei zu sein«, mischte ich mich ein.
    »Ja, das hat er«, erwiderte Lisa, die Hospizschwester. »Er entfaltet eine ziemlich einzigartige Begabung.«
    Sally trat zu uns. Sie fungierte als Hospizpfarrerin und kam gerade aus dem Zimmer von Mrs.Sanders.
    »Wie geht es Kathy?«, fragte ich sie.
    »Sie ist natürlich sehr traurig, aber ich glaube, sie wird damit fertig werden. Schließlich hat sie viel Zeit gehabt, sich auf den heutigen Tag vorzubereiten.«
    Ich riss mich los und ging durch den Flur zum Zimmer der Toten. Am Bett saß Kathy. Leise weinend, hielt sie die Hand ihrer Mutter. Auf dem Bett lag Oscar, der alle viere von sich gestreckt hatte und sich mit dem Rücken sanft ans Bein von Mrs.Sanders schmiegte. Kathy hob den Kopf und sah mich an. Trotz ihrer geschwollenen Augen brachte sie ein kurzes Lächeln zustande und erhob sich, um mich zu umarmen.
    »Herzliches Beileid«, sagte ich.
    Kathy begann wieder zu weinen, und ich spürte, wie ihre warmen Tränen durch mein Hemd drangen. Ich hielt sie in den Armen, bis es Zeit war, sich zu lösen. Ihre Augen waren blutunterlaufen, und sie sah aus, als hätte
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