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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Autoren: Stephan Orth
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wissen nicht, ob sie jemals wieder eine Atlantik-Schifffahrt in die andere Richtung machen werden. Roderich plagen zusätzlich zu den Ängsten vor den bevorstehenden Prüfungen noch andere düstere Gedanken. Kurz vor der Einschiffung in Kopenhagen hat er erfahren, dass Marie Günther aus Hellerau, in die er heimlich verliebt ist, schwer erkrankt ist. Verwandte von ihr hatten ihm vor seinem Aufbruch berichtet, dass sie wohl bald sterben werde – ohne zu ahnen, wie nah sich die beiden stehen. Er konnte sich nicht einmal mehr von ihr verabschieden, obwohl er eigens dafür mit dem Zug aus Zürich einen Abstecher über Dresden gemacht hatte.
    Vielleicht diskutieren Gaule und Roderich auch darüber, ob die musikalischen Imitationen von Wind und Meer in Wagners »Fliegendem Holländer« der tatsächlichen Kraft der Elemente gerecht werden. In Kopenhagen haben sie kurz vor der Abfahrt die Oper besucht, die von dem Kapitän handelt, der Gott und den Naturgewalten trotzen will und für seinen Hochmut büßen muss. Er wird dazu verdammt, mit einem Geisterschiff über die Weltmeere zu fahren und jedem Unglück zu bringen, der seine Wege kreuzt.
    Den Arktisreisenden begegnet unterwegs kein verfluchtes Schiff, doch auch die Eisberge Grönlands können Unglück verheißen. Plateaus, Inseln und Torbögen aus Kälte, die bis zu 100 Meter aus dem Wasser ragen und einen trügerischen Frieden ausstrahlen. Weiße Schönheiten mit versteckten Kielen unter Wasser, die Schiffsrümpfe aufschlitzen können.
    Doch der dänische Kapitän navigiert die 900 Bruttoregistertonnen der »Hans Egede« problemlos um alle Hindernisse. Endlich, am 14. April 1912, ist ein Ende der aufreibenden Überfahrt in Sicht. Noch zwei Tage an der Küste entlang, dann wird das Schiff in Godthaab anlegen, der nördlichsten Hauptstadt der Welt. Endlich fester Boden unter den Füßen.
    Wie sehr de Quervain ihn herbeigesehnt hat, klingt in einer Tagebuchpassage an: »Ist es die Mühe wert, aufs neue eine Dampferüberfahrt über den Atlantischen Ozean zu schildern? Wenn damit einer jener Kolosse gemeint wäre, auf denen man wie auf einer schwimmenden Insel etwa nach Neuyork hinübergeschoben wird, ohne dass man vom hohen Promenadendeck herab die Wellen überhaupt recht wahrnimmt, ohne dass man irgend eine Bequemlichkeit vermissen muss, die man auf dem festen Land beanspruchte – dann allerdings würde ich mir eine solche Wiederholung schenken. Wer so hinüberfährt, weiss kaum, was Sturm und Wellen sind. Aber wer am Ausgang des Winters in die Stürme des Nordatlantischen Ozeans hinauffährt, auf einer solchen Nussschale wie unser Grönlanddampfer schaukelnd, der hat immer noch zu erzählen von unvergesslichen Erinnerungen, wenn auch weniger von Siegen als von Niederlagen.«
    Von allen Passagieren der »Hans Egede« ist es Hans Hoessly, ein 29-jähriger Chirurg aus St. Moritz, den die Schiffsreise am meisten mitgenommen hat. Auf Fotos ist er oft als breit grinsende Frohnatur mit Pfeife im Mundwinkel zu sehen. Allerdings nur auf Fotos, die auf dem Festland gemacht wurden: »Hoessli erwähnte heute in Verbindung mit Meerfahrt und Seekrankheit den Tag seiner Geburt in einer geradezu ablehnenden Weise«, schreibt de Quervain.
    Der Arzt komplettiert die Vierergruppe, die Grönland von West nach Ost durchqueren will. Die anderen drei Forscher an Bord, Paul Louis Mercanton, Wilhelm Jost und August Stolberg, bilden die »Westgruppe«. Sie werden an der Küste zurückbleiben, um Eisbewegungen zu erforschen und mit Wetterballons zu messen, wie sich Druck und Strömungen in höheren Luftschichten verändern.
    De Quervain steuert schon zum zweiten Mal Westgrönland an. Drei Jahre zuvor war er schon einmal dort gewesen, für meteorologische Messungen und eine 26-tägige Erkundungstour auf dem Inlandeis. Auf dieser Tour reifte die Idee, eine Überquerung zu versuchen. Über ein Jahr lang bereitete er akribisch jedes Detail vor. Die Route, die Ausrüstung, die Finanzierung, das Depot am Zielpunkt. Alfred de Quervain überlässt die Dinge nicht gern dem Zufall. So sehr liebt er Präzision und Zuverlässigkeit, dass er sich zwischen seinen Messinstrumenten wohler fühlt als in der Gegenwart von Menschen mit ihren Fehlern und Ungenauigkeiten. Auf fast jedem Foto von seinen Reisen hält er einen Kompass, einen Windmesser, eine Uhr oder ein Barometer in der Hand.
    Jetzt sucht er in Gedanken immer wieder nach Schwachpunkten, die er übersehen haben könnte. Wohl wissend, dass seine Planungen
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