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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Autoren: Stephan Orth
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Ohrringe, Münzsammlungen, Kriegsabzeichen. Persönliche Kleinigkeiten der Vorfahren, zu schade zum Wegwerfen, aber zu alltäglich für eine genauere Betrachtung.
    Wie das unscheinbare Büchlein im tarnfarbengrauen Leineneinband, das jahrzehntelang direkt neben der Urne gelegen hatte, direkt neben Opa. Keiner in meiner Familie hatte sich je dafür interessiert. Leicht schimmliger Papiergeruch, obendrauf ein unkenntliches rotes Siegel und ein dunkler Fett- oder Wasserfleck. »Grönland 1912/
13« steht, mit schwarzer Tusche geschrieben, über der ersten von 208 leicht vergilbten Seiten. 19,5 mal 13 Zentimeter groß, 2,2 Zentimeter dick, 390 Gramm schwer: Opas Expeditionstagebuch.
    Natürlich hatte die Familie immer gewusst, dass es da liegt. Dass mein Großvater 1912 zu einer Forschungsreise nach Grönland aufgebrochen war. Ein lebensgefährliches Unterfangen, kaum weniger riskant als die Südpolfahrten von Robert Falcon Scott und Roald Amundsen kurz zuvor. Stoff für einen Abenteuerroman. Und gleichzeitig: der Opa halt. Wen interessiert schon das alte Zeug.
    Als ich das Tagebuch das erste Mal aufschlug, fiel mir zunächst eine Illustration in der Innenseite des Umschlags auf. Opa hatte dort eine Zeichnung von Wilhelm Busch eingeklebt. Sie zeigt einen Raben, der auf einen Totenschädel kotet. Darunter steht: »Selbst mancher Weise besieht ein leeres Denkgehäuse mit Ernst und Bangen – Der Rabe ist ganz unbefangen.« Ob sich Opa bei seinem Aufbruch wünschte, ein bisschen wie dieser Vogel zu sein, dem der Tod keine Angst einjagt?
    Ich blätterte weiter durch die alten Seiten. In einer Liste seiner Ausrüstung entdeckte ich die Bezeichnung »scheissende Rabenbüchli« und schlussfolgerte, dass er so seine Notizbücher genannt haben musste. Weiter hinten, auf Seite 137, fiel mein Blick auf eine Bleistiftzeichnung. Drei Männer, die einen vollbepackten Schlitten von einem etwa 40 Grad steilen Schneeabhang herablassen. Einer sitzt vorne und stemmt sich mit aller Kraft gegen den Schlitten. Ein anderer zerrt oben an dem Gefährt, der Dritte sichert es mit einem Seil, das er an einem Schneepickel fixiert hat. Die Männer haben keine Gesichter, ihre Köpfe sind konturlos wie Schatten.

    Ein gesichtsloser Schatten. Das wäre Opa für mich wahrscheinlich trotz des Tagebuchfundes geblieben, hätte mein Vater nicht kurz darauf in einem Landkartengeschäft in München eine Entdeckung gemacht. Als Professor für Alte Geschichte interessiert ihn die Vergangenheit mehr als mich. In dem Geschäft hatte eine Karte von Ostgrönland sein Interesse geweckt. Er betrachtete den kilometerbreiten Sermilik-Fjord mit seinen verästelten Buchten, das Örtchen Tasiilaq, im Westen die riesige Eisfläche, weißes Papier. Und Ficks Bjerg. Einen Berg, der nach meinem Opa benannt ist. Flankiert von Hoesslys Bjerg und Gaule Bjerg, den steinernen Denkmälern der beiden anderen Schattenmänner auf der Zeichnung im Tagebuch meines Opas.
    Nachdem mir mein Vater von seinem Fund berichtet hatte, googelte ich den Namen des Berges, um ihn mir genauer anzuschauen. Doch die Bildersuche listete keine Fotos, nur ein paar Satellitenbilder, die kaum etwas erkennen ließen. Ein Berg, den nicht mal Google auf dem Schirm hat, dachte ich, muss verdammt abgelegen sein.
    »Da müsste man eigentlich mal hin«, sagte mein Vater. Ich war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte. Zum nächsten Weihnachten bekamen mein Bruder und ich ringgebundene Kopien von Opas Reisebericht geschenkt und das Buch »Quer durchs Grönlandeis«, das Alfred de Quervain, Opas Expeditionsleiter, 1914 veröffentlicht hatte. Es schien also an der Zeit zu sein, sich auf einen ungewöhnlichen Familienurlaub vorzubereiten. Ich schlug das fast 100 Jahre alte Tagebuch meines Großvaters auf und begann, in seinen Aufzeichnungen zu lesen.

Juni 1912
    Grönland, Inlandeis, Tagebuch Roderich Fick

    Wir waren bis zum Hals im Wasser, hielten uns an den Schlitten und fühlten keinen Grund. Die Schlitten sanken langsam mehr und mehr. Hü und mir gelang es schnell, uns auf die Schollen zu ziehen. Ich wollte Q. die Hand reichen, um ihm auch auf eine Eisscholle herauszuhelfen. Er verweigerte die Hilfe und zog sich an einem Schlitten selbst auch raus. Unsere Kleider waren in dem kalten Wind fast momentan zu Eispanzern gefrohren. ...
    Hü und ich beginnen, die Säcke von seinem Schlitten loszuschneiden. Hoessli nimmt die Sachen in Empfang und bringt sie auf festeres Eis in Sicherheit. Allmählig macht Q. auch mit.
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