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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Autoren: Stephan Orth
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Eisberge, auf der anderen Seite ragen schroffe Berggipfel mit ihren Gletscherflanken in die Höhe. Zwar liegt auf der Straße viel Müll, und es stinkt nach Fisch, doch die Häuser selbst wirken gepflegt, an einigen kleben Satellitenschüsseln. Dänemark investiert viel Geld, damit diese Seite Ostgrönlands vorzeigbar aussieht für die Touristen.
    Zwei Dänen, die von Besuchern profitieren, sind Johan und Gudrun. Seit 14 Jahren kommt das Paar in den Sommermonaten hierher, um Langlauf- und Schlittentouren anzubieten und im Souvenirshop Seehundfelle und Pelzmützen, Landkarten und Grönland-T-Shirts zu verkaufen. Der elfjährige Sohn serviert Kaffee in weißen Plastikbechern. An der Wand hängen nachkolorierte Fotos von Inuit in traditioneller Tracht, darüber ein Kajak und alte Speere und Harpunen der Inuit. Auf einer Glasvitrine liegt ein Eisbärenschädel. »Das sieht ja aus wie zu Hause«, sagt meine Mutter. Wie in Opas Grönland-Diele. Zu seiner Zeit gab es hier noch keine Ortschaft, keinen Flughafen, keine Flugzeuge.
    Opas Tagebuch hat meine Mutter im Original mitgenommen, es klemmt in ihrem Tagesrucksack zwischen Fleecepulli und Wasserflasche, nur von einem Frischhaltebeutel geschützt. Ich halte das für keine gute Idee auf einer Trekkingreise, sage aber nichts.
    An den Anblick meiner Eltern in ihren Outdoorklamotten muss ich mich noch gewöhnen. Es gibt wohl keine zwei Menschen auf der Welt, die ich besser kenne. In karierten Funktionshemden und skandinavischen Synthetikhosen mit aufgesetzten Taschen wirken sie wie verkleidet. Tausende Euro haben sie in die Ausrüstung gesteckt, um alle Empfehlungen des Reiseveranstalters umzusetzen. Na ja, fast alle Empfehlungen: Gamaschen als Regenschutz kamen ihnen dann doch zu altmodisch vor. Mein Vater, 1,91 Meter groß, kaum ein Gramm Fett am Körper, verlässt sonst selten das Haus ohne Anzug und polierte Lederschuhe. Jetzt trägt er einen olivgrünen Schlapphut, einen Pullunder aus Wolle und eine Sonnenbrille aus den Siebzigern, die mit ihrem breiten Hornrand fast schon wieder zeitgemäß wirkt. Meine Mutter, etwa 20 Zentimeter kleiner als er, trägt eine blaue Wollmütze mit Schneeflockenmotiv und eine knallrote Regenjacke. Normalerweise bevorzugt sie dezentere Farben.
    Wir gehen in die Kirche. Das hat Tradition: Auf allen Familienreisen, an die ich mich erinnern kann, gingen wir in die Kirche, manchmal mehrfach an einem Tag. Nicht, weil meine Eltern besonders religiös wären, sondern hauptsächlich aus kulturgeschichtlichem Interesse. Mit gezücktem »Reclams Kunstführer« durch gotische Kathedralen, norwegische Stabkirchen, romanische Kreuzgänge. Niemand verlässt den Raum, bevor jedes Wandgemälde und jede Heiligenfigur zugeordnet und interpretiert ist. Als Teenager habe ich es gehasst.
    In der Kirche von Kulusuk gibt es nicht viel zu interpretieren. Giftgrün gestrichene Holzbänke, ein paar bunte Fenster. Ein Modellschiff hängt an der Decke, ein Dreimaster, dankbare Seeleute waren es, die das Gotteshaus gebaut haben. Die Kniebänke vor dem Altar sind mit Robbenfell gepolstert, der Raum ist auf Saunatemperatur geheizt. Meine Mutter setzt sich an die kleine Elektroorgel vorne rechts und spielt vom Blatt Choräle aus dem aufgeschlagenen Liederbuch. Das nächste Stück spielt Uli, mein Onkel, wir sind eine musikalische Reisegruppe. Eckhart, ein Freund der Familie, legt mit »Für Elise« nach. Mein Vater drängt zum Gehen.
    Ein roter Hubschrauber mit neun Sitzplätzen bringt uns nach Tasiilaq, zehn Minuten dauert der Flug über das Packeis. Dreiecke, Vierecke und Fünfecke treiben im Meer, Puzzleteile, die auseinanderdriften und mit der Zeit immer schlechter zusammenpassen, bis sie schließlich ganz verschwinden. Am Flughafen wartet ein Transporter, der unsere Taschen und Rucksäcke zum Zeltplatz bringt. Der liegt am Ufer zwischen einem Schiffsfriedhof und der Müllhalde, aber von beidem weit genug entfernt, um die Fjordidylle zu wahren. Ein paar Zelte stehen schon, 24 Geografiestudenten aus Augsburg sind hier, um sich in der Landvermessung zu üben.
    Tasiilaq, der siebtgrößte Ort Grönlands, hat einen staubigen Fußballplatz, einen Frachthafen und ein Hotel namens »Angmagssalik«, so hieß die Ortschaft früher. Rote, blaue und gelbe Häuschen aus importierten Holzschindeln klammern sich an den Hang, ihre dreistelligen Hausnummern wirken wie verzweifelte Versuche, die Winzigkeit des Ortes zu verschleiern.
    Kinder hüpfen auf Trampolinen auf und ab,
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