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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Autoren: Stephan Orth
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Schlittenhundbabys balgen sich zwischen Grasbüscheln. Auf der gepflasterten Hauptstraße ohne Ampeln fährt nur alle fünf Minuten ein Auto, sie endet hinter den Häusern bald im Nichts. Fernstraßen gibt es nicht, wo sollten sie auch hinführen. Etwa 2000 Menschen leben hier, zwischen dem Inlandeis im Westen und einem Treibeisgürtel im Osten, den Frachtschiffe nur wenige Monate im Jahr passieren können. Wahrscheinlich ist Tasiilaq die einsamste Stadt Europas, wer die nächstgrößere besuchen will, muss mehr als 650 Kilometer zurücklegen.
    Patrick holt fünf grüne Zelte aus einer Wellblechlagerhalle und führt vor, wie man sie aufbaut. Camping für Wiedereinsteiger: Wieso ist die Zeltstange zu lang, um in die vorgesehene Lasche zu passen? Muss die Dachstange über oder unter die beiden Querstreben? Wie groß sollten die Felsbrocken sein, die auf hartem Untergrund die Zeltheringe ersetzen?
    Zum Abendessen brät Patrick in einer riesigen Metallpfanne Fisch, dazu gibt es Reis und Wirsing. Über uns pittoreske Holzhäuser, vor uns ein Plastiknapf voller Köstlichkeiten – das Gefühl, in ein Abenteuer voller Anstrengungen und Entbehrungen geraten zu sein, will sich in diesem Luxus-Camp nicht recht einstellen. Nur die Fliegenbataillone, die auf Haut und Haaren landen, nerven ein wenig. Tante Traudl trägt schon ihr Moskitonetz um den Kopf und sieht aus wie eine Imkerin.
    »Wollen wir noch in die Disko?«, fragt Patrick. Ein letztes Bier vor der Wildnis klingt verlockend, Eckhart, Uli und ich gehen mit.Die einzige Bar des Ortes liegt in einer dunklen Ecke am Hafen mit seinen Motorbooten und kleinen Segelyachten. Vor dem Eingang rauchen Männer mit glasigen Augen überteuerte Marlboros, 75 Kronen kostet eine Packung, mehr als zehn Euro, und lallen vorbeihuschenden Frauen Liebesschwüre hinterher.
    Es gibt nur eine Biersorte, Tuborg. Von den Barhockern beobachten die Gäste den Verlauf eines Billardspiels. Eine ziemlich betrunkene Frau mit Kurzhaarfrisur, etwa Mitte 20, drückt Patrick ihre Bierflasche in die Hand und versenkt dann gegen ihren doppelt so alten Gegner eine Kugel nach der anderen. Sie macht ihn regelrecht fertig, zwischendurch grinst sie Patrick stolz an. Dann will sie tanzen, schiebt uns in den menschenleeren Nebenraum. Diskokugeln, rote Scheinwerfer, »I will survive«. Ein Türsteher verlangt Eintritt. Wir gehen zurück zu den Barhockern.
    Eine rundliche Frau mit asiatischen Zügen rupft ein paar Daunenfedern von meinem Fleecepulli und lacht vor sich hin. Sie heißt Senna, ist 30 und arbeitet an der Schule. »I learned English four years«, sagt sie, dann bringt sie uns bei, wie man »Prost«, »Wie geht’s« und »Ich liebe dich« auf Grönländisch sagt. Als »Living next door to Alice« von Smokie aus alten Lautsprechern scheppert, singt sie mit, plötzlich akzentfrei, sie kennt jedes Wort. Der Song handelt von einer Frau, die abhaut. Eine große Limousine hält vor ihrer Haustür, und sie verschwindet auf Nimmerwiedersehen.
    Ich sage ihr, dass mir Tasiilaq gefalle, die Hafenbucht, die Landschaft ringsum, und sie wird mit einem Mal ernst. »Ich hasse es hier. Die Winter sind schrecklich. Ich will in eine Stadt, ich hasse meine Mutter und noch mehr meinen Vater«, bricht es aus ihr heraus. Wenn sie es sich leisten könnte, wäre sie schon längst in Dänemark. Im Oktober flieht sie für ein paar Tage in die Hauptstadt Nuuk, um ihren Geburtstag zu feiern. »Der Flug kostet mehr als 500 Euro, dann habe ich kein Geld mehr für eine Party.«
    Tasiilaq mag eine Idylle sein für den Besucher, »wie ein ruhiger See« bedeutet sein Name. Aber es ist offenbar kein Paradies für die Einwohner. Seit Kampagnen von Umweltschützern dafür gesorgt haben, dass die Jäger kaum noch Robbenfelle verkaufen können, sind viele Bewohner arbeitslos, leben von der Sozialhilfe der dänischen Regierung. Tasiilaq hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt, im Winter versinkt die Stadt monatelang in der eisigen Polarnacht. Alkoholismus und Missbrauch sind in vielen Familien Alltag. Die Inuit haben ihre traditionelle Kultur gegen Holzhäuser, Handys und Fernseher eingetauscht – und dabei einen Teil ihrer früheren Friedfertigkeit verloren. Einst wurden Konflikte durch Lachduelle beigelegt, über Jahrtausende gab es hier keine Kriege oder Revolten.
    Europäer lehrten die Inuit schließlich, was Zivilisation bedeutet. Ab 1894 unterhielten die Dänen in Tasiilaq eine ständige Verwaltung, Schiffe brachten Holz und
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