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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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Kalkablagerungen an der Decke. Vor meiner Geburt war es Michaels Zimmer gewesen. Der hatte den gallertartigen Sago - dessen Schleimigkeit ihm missfiel gern löffelweise an die Decke befördert, wo er mit nassem Klatschen haften blieb. Wenn der Sago dann trocknete, wurde daraus ein kreidiger Haufen.
    Es gab mehrere Räume ohne besondere Zuordnung zu jemandem und ohne erkennbare Funktion. Alle möglichen Dinge wurden darin aufbewahrt - Bücher, Spiele und Spielzeuge, Zeitschriften, Regenmäntel, Sportgeräte. In einem kleinen Zimmer befanden sich lediglich eine Singer-Nähmaschine mit Fußpedal (die meine Mutter bei ihrer Heirat im Jahre 1922 gekauft hatte) und eine Strickmaschine von verwickelter (und in meinen Augen schöner) Bauweise. Auf ihr strickte meine Mutter unsere Socken, und gar zu gern sah ich zu, wie sie mit dem Griff hantierte, wie die blitzenden Stahlstricknadeln im Gleichklang klapperten und die Wollrolle, beschwert mit einem Bleigewicht, stetig nach unten ruckte. Einmal lenkte ich sie dabei so sehr ab, dass der Wollschlauch länger und länger wurde, bis er schließlich auf den Fußboden reichte. Da sie nicht wusste, was sie mit diesem überlangen Schlauch anfangen sollte, gab sie ihn mir als Muff.
    Diese Extrazimmer ermöglichten meinen Eltern, Verwandte wie Tante Birdie unterzubringen - manchmal für lange Zeit. Das größte blieb für meine imposante Tante Annie reserviert, für einen ihrer seltenen Besuche aus Jerusalem (dreißig Jahre nach ihrem Tod hieß es immer noch «Annies Zimmer»). Auch Tante Len stand, wenn sie von Delamere zu Besuch kam, ein eigenes Zimmer zur Verfügung, wo sie sich mit ihren Büchern und ihrem Teegeschirr häuslich einrichtete - es gab einen Gaskocher in diesem Zimmer, auf dem sie sich ihren eigenen Tee zubereitete. Immer wenn sie mich zu sich einlud, hatte ich das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, eine Welt, die von anderen Interessen, anderen Vorlieben geprägt war, eine Welt der Höflichkeit und der bedingungslosen Liebe.
    Als mein Onkel Joe, ein Arzt in Malaya, in japanische Kriegsgefangenschaft geriet, wohnten sein älterer Sohn und seine Tochter bei uns. In den Kriegsjahren nahmen meine Eltern auch manchmal Flüchtlinge aus Europa auf. Daher wirkte das Haus trotz seiner Größe nie leer, vielmehr schienen sich darin Dutzende separater Leben zu entfalten. Der Bau beherbergte neben der engeren Familie - meine Eltern, meine drei Brüder und ich - immer auch die wechselnden Onkel und Tanten, die Bediensteten - die Kinderfrau und die Köchin - und nicht zu vergessen die Patienten, die aus und ein gingen.
KAPITEL DREI

EXIL
    Anfang September 1939 brach der Krieg aus. Man erwartete eine massive Bombardierung Londons, daher wurden Eltern von der Regierung nachdrücklich aufgefordert, ihre Kinder zu evakuieren und auf dem Land in Sicherheit zu bringen. Mein fünf Jahre älterer Bruder Michael besuchte eine Tagesschule in unserer Nachbarschaft. Als sie bei Kriegsausbruch geschlossen wurde, entschied sich einer der stellvertretenden Schulleiter, sie in dem kleinen Dorf Braefield neu einzurichten. Meine Eltern hatten zwar große Bedenken (wie mir erst viele Jahre später klar wurde), einen kleinen Jungen - ich war gerade sechs - von seiner Familie zu trennen und ihn in ein behelfsmäßiges Internat in Mittelengland zu schicken, aber sie sahen keine andere Möglichkeit und trösteten sich damit, dass Michael und ich immerhin zusammen sein würden.
    Es hätte auch durchaus gut gehen können - wie bei der Evakuierung von Tausenden anderen. Doch die Schule entsprach in ihrer neuen Form nur noch einem Zerrbild des Originals. Das Essen war rationiert und knapp, und die Lebensmittelpakete von zu Hause wurden von der Hausmutter geplündert. Unsere Kost bestand vorwiegend aus Steckrüben und Runkelrüben riesigen gelben Rüben und den Wurzeln der rote Bete, die als Viehfutter angebaut wurden. Es gab eine Grütze, deren Ekel erregender Geschmack sich sofort wieder einstellt (während ich diese Zeilen rund sechzig Jahre später schreibe), sodass ich fast wieder zu würgen beginne. Der furchtbare Schulalltag wurde für die meisten von uns noch verschlimmert durch das Gefühl, wir seien von der Familie verstoßen worden und müssten nun an diesem schrecklichen Ort verderben - als unerklärliche Bestrafung für etwas, was wir getan hatten.
    Der Direktor schien von der eigenen Macht berauscht zu sein. Als Lehrer in London sei er ganz anständig, sogar beliebt gewesen, erzählte
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