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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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besuchten uns unsere Eltern zwar, aber doch so selten, dass ich fast keine Erinnerung daran habe. Als Michael und ich im Dezember 1940 nach fast einjähriger Abwesenheit für die Weihnachtsferien nach Hause zurückkehrten, hegte ich äußerst gemischte Gefühle: Erleichterung, Wut, Freude, Besorgnis. Auch das Haus erschien mir fremd und verändert: Hauswirtschafterin und Köchin waren fort, stattdessen traf man auf Fremde, ein flämisches Ehepaar, das in letzter Minute aus Dünkirchen hatte entkommen können. In dem nun fast leeren Haus hatten meine Eltern sie aufgenommen, bis sie eine eigene Wohnung fanden. Nur Greta, unser Dackel, schien die Gleiche geblieben zu sein. Sie jaulte begeistert, wälzte sich auf dem Rücken und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz.
    Es gab auch äußerliche Veränderungen: Vor den Fenstern hingen schwere Verdunkelungsvorhänge; die innere Eingangstür, durch deren Glasfenster ich so gerne geschaut hatte, war einige Wochen zuvor bei einer Bombenexplosion herausgerissen worden; der Garten, im Rahmen der Kriegsmaßnahmen mit Topinambur bepflanzt, schien fast nicht mehr wiederzuerkennen; und an Stelle des alten Gartenschuppens befand sich ein Anderson-Bunker, ein hässliches, klotziges Bauwerk mit dickem Betondach.
    Zwar war die Schlacht um England schon vorüber, doch der Luftkrieg tobte mit unverminderter Heftigkeit. Fast jede Nacht gab es Fliegeralarm, und der Nachthimmel erstrahlte hell von Flakfeuer und Scheinwerfern. Ich erinnere mich an deutsche Flugzeuge, die im Kegel eines wandernden Scheinwerfers fast bewegungslos erschienen, während sie versuchten, in den dunkler werdenden Nachthimmel über London zu entweichen. Es war erschreckend, aber auch aufregend für einen Siebenjährigen. Vor allem aber war ich wohl froh, der Schule entkommen zu sein und wieder die Geborgenheit meines Zuhauses zu genießen.
    Eines Nachts fiel eine Zehnzentnerbombe in den Garten des Nachbarhauses, sie zündete aber glücklicherweise nicht. In dieser Nacht schien sich die ganze Straße davonzuschleichen (unsere Familie zur Wohnung eines Cousins) - viele von uns im Pyjama -, alle auf Zehenspitzen (vielleicht konnte die geringste Erschütterung das Ding in die Luft gehen lassen). Die Straßen stockduster, weil die Verdunkelung in Kraft war, behalfen wir uns mit elektrischen Taschenlampen, deren Licht von rotem Krepppapier weiter gedämpft wurde. Keiner wusste, ob unser Haus am Morgen noch stehen würde.
    Ein andermal landete eine Brandbombe, eine Thermitbombe, hinter unserem Haus und loderte dort mit schrecklicher, weißglühender Hitze. Mein Vater setzte eine Tretpumpe in Gang, und meine Brüder schafften Kübel voll Wasser herbei, doch Wasser schien gegen das infernalische Feuer nichts auszurichten - im Gegenteil, es stachelte die Wut der Flammen offenbar noch an. Wenn das Wasser auf das weiß glühende Metall traf, ertönte ein bösartiges Zischen und Spucken, während die Bombe unbeirrt das eigene Gehäuse zum Schmelzen brachte und Klumpen aus flüssigem Metall in alle Richtungen spie. Am nächsten Morgen fanden wir den Rasen vernarbt und verwüstet wie eine Vulkanlandschaft vor, zu meinem Entzücken aber auch von herrlich glänzenden Schrapnellsplittern bedeckt, die ich nach den Ferien in der Schule vorzeigen konnte.
    Eine merkwürdige und beschämende Episode ist mir aus der kurzen Zeit meines Aufenthalts zu Hause während der Luftangriffe in Erinnerung geblieben. Unsere Hündin Greta liebte ich sehr (und weinte bitterlich, als sie 1945 von einem rasenden Motorradfahrer getötet wurde), trotzdem sperrte ich sie gleich nach meiner Ankunft bei klirrendem Frost draußen auf dem Hof im Kohlenverschlag ein, von wo man ihr jämmerliches Geheul und Gebell nicht hören konnte. Nach einiger Zeit wurde sie vermisst. Ich wurde wie alle anderen gefragt, wann ich sie zuletzt gesehen hätte und ob ich wusste, wo sie sein könnte. Ich dachte an sie - hungrig, frierend, eingesperrt, vielleicht schon sterbend dort draußen im Kohlenverschlag -, sagte aber keinen Ton. Erst gegen Abend gestand ich meine Tat, woraufhin man die fast erfrorene Greta aus ihrem Gefängnis befreite. Mein Vater war wütend. Er verabreichte mir eine «ordentliche Tracht Prügel» und ließ mich für den Rest des Tages in der Ecke stehen. Man fragte mich jedoch nicht, warum ich eine derart untypische Unart an den Tag gelegt hatte, warum ich zu einem Hund, den ich liebte, so grausam gewesen war. Und hätte man mich gefragt, hätte ich es ihnen
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