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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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mit seinen eleganten, aber unbequemen chinesischen Stühlen und Lackschränken nur für Familienzusammenkünfte bestimmt. Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins aus der Nachbarschaft schauten an den Samstagnachmittagen vorbei. Dann wurde ein besonderes silbernes Teeservice hervorgeholt, und kleine, rindenlose Sandwiches mit geräuchertem Lachs und Dorschkaviar wurden im Salon gereicht derartige Leckerbissen gab es sonst nie. Die Kronleuchter im Salon, ursprünglich Gasleuchter, waren irgendwann in den zwanziger Jahren auf Elektrizität umgestellt worden (aber überall im Haus gab es noch Gasbrenner und seltsame Aufsätze, sodass wir im Notfall wieder zum Gaslicht zurückkehren konnten). Im Salon stand außerdem ein riesiger Flügel mit vielen Familienfotos darauf, doch mir gefiel der leisere Klang des Klaviers im Wohnzimmer besser.
    Obwohl das Haus voller Musik und Bücher war, gab es so gut wie keine Gemälde, Stiche oder Bildwerke irgendeiner Art. Dazu passte, dass meine Eltern zwar häufig in Aufführungen und Konzerte gingen, aber, soweit ich mich erinnern kann, nie Museen oder Kunstgalerien besuchten. Unsere Synagoge hatte bunte Glasfenster mit biblischen Szenen, die ich häufig während der eher ermüdenden Abschnitte des Gottesdienstes betrachtete. Es bestand offenbar keine Einigkeit darüber, ob solche Darstellungen angesichts des Verbots von Götzenbildern zulässig waren, und ich fragte mich, ob dies der Grund sei, warum bei uns zu Hause keine Bilder hingen. Doch wie mir bald klar wurde, lag es einfach daran, dass Einrichtung und Aussehen des Hauses für meine Eltern überhaupt keine Rolle spielten. Später erfuhr ich, dass sie nach dem Kauf des Hauses (1930) Lina, der älteren Schwester meines Vaters, ihr Scheckbuch in die Hand gedrückt und gesagt hatten: «Mach, was du willst, und besorg, was du willst.»
    Linas Entscheidungen - die bis auf die Chinoiserien im Salon ziemlich konventionell waren - wurden weder begrüßt noch missbilligt, meine Eltern nahmen sie hin, ohne sie recht zu beachten. Als mein Freund Jonathan Miller mich zum ersten Mal besuchte - es war kurz nach dem Krieg -, meinte er, es wirke wie ein möbliert gemietetes Haus auf ihn, ohne Anzeichen für persönlichen Geschmack oder Gestaltungswillen. Mir war die Einrichtung genauso gleichgültig wie meinen Eltern, obwohl mich Jonathans Bemerkung ärgerte und verwirrte. Denn für mich war Nummer 37 voller Geheimnisse und Wunder - Bühne und mythischer Hintergrund, vor dem sich mein Leben entrollte.
    Fast in jedem Zimmer gab es Kohlekamine, einschließlich eines mit Fischmotiven verzierten Kachelofens im Badezimmer. Zum Kamin im Wohnzimmer gehörten große kupferne Kohleneimer zu beiden Seiten, ein Blasebalg und ein Kaminset einschließlich eines großen, leicht gebogenen stählernen Feuerhakens (mein ältester Bruder Marcus, der sehr kräftig war, hatte es geschafft, ihn in fast weißglühendem Zustand zu biegen. Wenn ein oder zwei Tanten zu Besuch kamen, versammelten wir uns im Wohnzimmer, und sie stellten sich mit dem Rücken zum Kamin und hoben die Röcke. Wie meine Mutter waren sie alle starke Raucherinnen. Sobald sie sich am Feuer aufgewärmt hatten, setzten sie sich also aufs Sofa, rauchten und warfen ihre Zigarettenstummel ins Feuer. Meist zielten sie miserabel, sodass die feuchten Kippen die Ziegelmauer trafen, wo sie Ekel erregend kleben blieben, bis sie endlich verbrannten.
    Meine früheste Kindheit, die Vorkriegsjahre, sind mir nur bruchstückhaft im Gedächtnis geblieben, aber ich erinnere mich noch an den kindlichen Schrecken, den mir die Beobachtung einflößte, dass viele meiner Tanten und Onkel pechschwarze Zungen hatten - würde meine eigene, so fragte ich mich, auch schwarz werden, wenn ich groß war? Zu meiner großen Erleichterung erklärte mir jedoch Tante Len, die meine Ängste erriet, ihre Zungen seien nicht wirklich schwarz, sondern nur eingefärbt von Kohlekeksen, die sie alle gegen Blähungen kauten.
    An meine Tante Dora (die starb, als ich noch sehr klein war) habe ich keine Erinnerung außer der Farbe Orange - ob es die Farbe ihres Teints, ihres Haars oder ihrer Kleidung war oder einfach der Widerschein des Kaminfeuers, weiß ich nicht mehr. Was geblieben ist, ist ein Gefühl der Wärme, ein nostalgisches Empfinden und eine sonderbare Vorliebe für Orange.
    Als der Jüngste hatte ich nur ein winziges Zimmer, von dem eine Verbindungstür ins Schlafzimmer meiner Eltern führte. Ich erinnere mich an merkwürdige
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