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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
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Abe ein Pionier auf dem Gebiet der Leuchtfarben war. Wie mein Kristallradio nahm ich sie abends mit unter meine Bettdecke, in mein privates, geheimes Gewölbe, und sie erfüllten meine Höhle aus Betttüchern mit einem unheimlichen, grünlichen Licht.
    All diese Dinge - der geriebene Bernstein, die Magneten, das Kristallradio, die Zifferblätter mit ihrem unermüdlichen Leuchten - vermittelten mir einen Eindruck von unsichtbaren Strahlen und Kräften, das Gefühl, dass sich hinter der vertrauten, sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen eine dunkle Welt voller geheimnisvoller Gesetze und Phänomene verbarg.
    Immer wenn wir einen «Kurzen» hatten, kletterte mein Vater zum Sicherungskasten aus Porzellan hoch oben an der Küchenwand, ermittelte die durchgebrannte Sicherung, die zu einem Klumpen zusammengeschmolzen war, und ersetzte sie durch eine neue Sicherung aus einem merkwürdigen, weichen Draht. Es war schwer vorstellbar, dass Metall schmelzen konnte - waren Sicherungen tatsächlich aus dem gleichen Material gemacht wie Rasenwalzen und Zinnkrüge?
    Sicherungen bestünden aus einer Speziallegierung, erklärte mir mein Vater, einer Mischung aus Zinn, Blei und anderen Metallen. Sie alle hätten relativ niedrige Schmelzpunkte, aber noch niedriger sei der Schmelzpunkt ihrer Legierung. Ich fragte mich, wie das möglich war. Welches Geheimnis verbarg sich hinter dem seltsam niedrigen Schmelzpunkt dieses neuen Metalls? Überhaupt, was war Elektrizität, und wie konnte sie fließen? War sie eine Art Flüssigkeit wie die Wärme, die auch geleitet werden konnte? Warum floss sie durch Metall, aber nicht durch Porzellan? Auch das verlangte nach einer Erklärung.
    Meine Fragen nahmen kein Ende und machten vor nichts Halt, wenn sie auch immer wieder um meine Obsession, die Metalle, kreisten. Warum glänzten sie? Warum waren sie glatt? Warum kühl? Warum hart? Warum schwer? Warum bogen sie sich und brachen nicht? Warum erzeugten sie Töne? Wie konnten sich zwei weiche Metalle wie Zink und Kupfer oder Zinn und Kupfer zu härteren Stoffen verbinden? Was verlieh Gold seinen gelben Glanz, und warum lief es nie an?
    Meistens ging meine Mutter geduldig auf meine Fragen ein, aber wenn ihre Geduld schließlich erschöpft war, sagte sie: «Mehr kann ich dir nicht sagen, wenn du es genauer wissen willst, musst du Onkel Dave fragen.»
    Solange ich mich erinnern kann, nannten wir ihn Uncle Tungsten, Onkel Wolfram, weil er Glühlampen mit feinen Drähten aus Wolfram (tungsten) herstellte. Seine Firma hieß Tungstalite. Oft besuchte ich ihn in der alten Fabrik in Farringdon und beobachtete ihn bei der Arbeit, mit Klappkragen und aufgekrempelten Hemdsärmeln. Das schwere dunkle Wolframpulver wurde gepresst, gehämmert, rotglühend gesintert und dann zu einem immer feineren und feineren Draht für die Leuchtfaden gezogen. Das schwarze Pulver hatte sich in Onkels Hände so eingebrannt, dass kein Waschen half (er hätte sich schon die Epidermis entfernen lassen müssen, und selbst das hätte wahrscheinlich nicht gereicht). Nach dreißig Jahren Arbeit mit Wolfram, so stellte ich mir vor, war ihm das schwere Element in Lungen und Knochen gedrungen, in Gefäße und Gedärme, in jedes Gewebe seines Körpers. Doch ich sah das als Privileg, nicht als Fluch - für mich wurde sein Körper gestärkt und gekräftigt durch das wunderbare Element, wurde ihm eine Kraft und Beständigkeit von fast übermenschlichem Ausmaß verliehen.
    Immer wenn ich die Fabrik besuchte, zeigte er mir die Maschinen oder bat seinen Werkmeister darum. (Der Werkmeister war ein kleiner, muskulöser Mann, ein Popeye mit enormen Unterarmen, ein augenfälliger Beweis für die Vorzüge der Arbeit mit Wolfram.) Ich wurde nie müde, die komplizierten Maschinen zu bestaunen, die immer sauber, glänzend und geölt waren, oder den Ofen, in dem das lockere schwarze Pulver zu dichten, harten, grau schimmernden Stangen gepresst wurde.
    Bei meinen Besuchen in der Fabrik und manchmal auch zu Hause führte Onkel Dave mich mit kleinen Experimenten in die Welt der Metalle ein. Ich wusste, dass Quecksilber, dieses seltsame flüssige Metall, unglaublich schwer und dicht war. Sogar Blei war leichter, wie mein Onkel mir zeigte, indem er eine Bleikugel auf Quecksilber in einer Schüssel schwimmen ließ. Doch dann zog er eine kleine graue Stange aus seiner Tasche, die zu meinem Erstaunen sofort auf den Boden des Gefäßes sank. Das, sagte er, sei sein Metall, Wolfram.
    Onkel liebte die Dichte des
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