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One: Die einzige Chance (German Edition)

One: Die einzige Chance (German Edition)

Titel: One: Die einzige Chance (German Edition)
Autoren: Tobias Elsäßer
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er die Hütte erreicht haben. Der Vorteil an einem Mord in den Alpen war die Abgeschiedenheit. Im Normalfall gab es hier weder Überwachungskameras noch eine Alarmanlage. Der große Nachteil war jedoch, dass er nicht wusste, ob seine Zielpersonen alleine waren. In dem Fall würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als auch die Zeugen zu beseitigen. Bei seinem letzten Job.

    Im Kamin brannte Feuer. Vincent Pinaz holte die Unterlagen aus dem Tresor hinter dem kitschigen Landschaftsporträt und breitete sie vor sich auf dem Holztisch aus. Das Knistern der Scheite erfüllte den niedrigen Raum. Warmes Licht lag über den holzgetäfelten Wänden, aber das Ambiente passte nicht. Ihm war übel vor Angst. Sie hatten Samuel in ihrer Gewalt. Seinen Sohn. Sie hatten ihn entführt und misshandelt, diese radikalen Spinner.
    Nachdem er die Protokolle der letzten dreißig Jahre auf kleine Stapel nebeneinandergelegt hatte, wärmte er kurz seine Hände am Feuer und überflog die handgeschriebenen Aufzeichnungen. Am liebsten hätte er sie verbrannt, in den Kamin geworfen und dabei zugesehen, wie die Flammen das Papier in Asche verwandelten, unbrauchbar für Dritte, unbrauchbar für Terroristen. Denn die Leute, die seinen Sohn entführt hatten, waren zweifellos Terroristen. Sie waren bereit, auch ihn zu töten, wenn er ihnen nicht das gab, was sie wollten. Nie würde er das Bild von Samuel vergessen, wie er mit verbundenen Augen, Kopfverband und geschwollenem Gesicht neben dem Auto stand. Hätte er doch Kontakt mit diesen Leuten aufgenommen! Stattdessen hatte er darauf gehofft, dass sie ihn in Ruhe lassen würden, und sich diesen Bunker auf der Insel gebaut, anstatt in der Wohnung auf Hongkong Island zu bleiben. Er war auf der Flucht gewesen, nicht nur vor diesen Weltverbesserern, sondern vor sich selbst und vor dem, was er all die Jahre in sich getragen hatte. Weinfeld hatte recht, er war vor seiner Bestimmung davongelaufen. Selbst als er festgestellt hatte, dass er von innen heraus nichts am System verändern konnte, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte, um weiterhin in den Spiegel schauen zu können.
    Wie sollte Samuel zu so jemandem aufschauen? Zu einem Vater, der all seine Ideale über Bord geworfen hatte, nur um kein Risiko einzugehen, nur um nicht zu scheitern. Wie lächerlich, das Scheitern seiner Ideen damit gleichzusetzen, unter der Brücke zu landen und betteln gehen zu müssen. Diese beschissene Angst war er nie losgeworden. Ein deutsches Heimkind mit südamerikanischen Wurzeln, das es zu etwas gebracht hatte, wollte er sein. Wo auch immer auf der Welt seine Eltern waren – sie sollten es bereuen, ihn als Baby abgegeben zu haben. War er es nicht wert gewesen, geliebt zu werden? Diese Frage hatte ihn dazu angestachelt, der Beste zu sein. Immer der Beste. Auszeichnungen in der Schule, das Abitur. Förderprogramme. Stipendien. In diesem Feldzug gegen den Schmerz darüber, keine Wurzeln, kein Zuhause zu haben, hatte er sich am Erfolg berauscht.
    Er schaute auf seine Uhr. In wenigen Minuten musste der Bote eintreffen. Dann endlich würden sie Samuel mit ihm telefonieren lassen und ihn vor einer Polizeistation absetzen. Die Bilder dazu wollten sie ihm live zukommen lassen, über das Satellitenhandy, das er nun in seiner zittrigen Hand hielt. Er starrte hinüber zur Tür. Er war nicht bewaffnet. Vielleicht war das ein Fehler. Wieso ging er davon aus, dass diese Leute nicht auch ihn als Geisel nehmen wollten? Schließlich hatten sie alles daran gesetzt, ihn auszuspionieren. Und nicht nur das. Sie hatten andere aus der Gruppe getötet. Ihn hatten sie am Leben gelassen, warum auch immer.
    Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Er stand vom Tisch auf, durchquerte den Raum mit langsamen Schritten und betrat die Abstellkammer. Das Jagdgewehr befand sich immer noch an derselben Stelle. Wahrscheinlich funktionierte es gar nicht mehr, nach so langer Zeit. Die Munition hatte er unter einer losen Diele versteckt. Warum hatten sie sich ausgerechnet ihn herausgepickt, überlegte er, während er den Lauf abknickte und die Patrone in das Lager schob. Jeder aus dem Zirkel kannte die Pläne, jeder kannte diesen Ort. Vor sechs Jahren hatten sie zum letzten Mal alle an dem Tisch gesessen und debattiert. Jeder war auf seine Weise gealtert, reifer geworden, Teil des großen Ganzen. Jeder von ihnen war in seinem Job erfolgreich. Und doch hatte sich nach den ersten Flaschen Wein herausgestellt, dass keinem von ihnen danach zumute war, sich auf die
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