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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an
Autoren: Anne Telscombe
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es stellte sich heraus, daß es keine Speisekarte gab, sondern nur ein dreigängiges Einheitsmenü, das aus verschiedenen Kohlvariationen bestand: zuerst Kohlsuppe, lauwarm und in Fett schwimmend, dann Hackfleisch und Reis in nasse Kohlblätter gerollt.
    «Und wenn man aus Kohl Pudding machen könnte», sagte Dr. Clark, «dann würden wir den wohl auch bekommen.»
    Die Mitglieder der Delegation waren nach der langen Flugreise müde und hatten an allem etwas auszusetzen. Sie fanden ihre gute Stimmung erst wieder, als sich herausstellte, daß der dritte Gang aus geschmorten Backpflaumen bestand.
    Die russischen Passagiere waren längst verschwunden. Sogar der Dolmetscher hatte sie beim Beginn des Essens verlassen. Nur die freundlichen, breitgesichtigen Kellnerinnen, die ab und zu erschienen, um die halb leeren Schüsseln wegzuräumen, und die von den Wänden streng herniederblickenden Porträts der Mitglieder des Politbüros sorgten für einen Hauch Lokalkolorit.
    Aus dem zwischen ionischen Säulen versteckten Lautsprecher dröhnte jetzt klassische Musik. Die englischen Gäste saßen sich an der langen Tafel gegenüber, unterhielten sich laut und ein wenig gereizt und hatten das Gefühl, daß ihr erster Kontakt mit der Sowjetunion alles andere als ein Erfolg war.
    Miss Baker gab diesem allgemeinen Gefühl treffend Ausdruck.
    «Ich habe mich noch nie weniger im Ausland gefühlt», sagte sie und zerknüllte ihre dünne Papierserviette auf dem Tisch. «Alles ist so farblos, so ohne Nationalcharakter. Ich habe das Gefühl, in einen luftleeren Raum gefallen zu sein.»
    «Keine Balalaikas», stimmte Dr. Clark traurig zu. «Kein Schaschlik, keine kostümierten Bauern. Nicht mal ein Don-Kosaken-Chor aus dem Radio.»
    «Ich habe ja nicht gerade Großfürsten oder Troikas erwartet», meinte James Bailey. «Aber doch wenigstens ein paar Funktionäre, die über Fünfjahrespläne nachdenken, und ein paar in Treue feste Genossen, die sie dann erfüllen. Irgend etwas muß doch auf diesem langweiligen Flugplatz stattfinden, aber im Augenblick, muß ich schon sagen, komme ich mir sehr isoliert und außerordentlich englisch vor.»
    «Wir sitzen hier schon Stunden beim Essen», beklagte sich Patricia
    Cartwright. «Wir werden hoffentlich bald weiterfliegen.»
    Wie als Antwort auf ihre Ungeduld schob sich der tragisch blickende kleine Dolmetscher durch die Portieren und baute sich, offensichtlich in Gedanken mit einer längeren Ansprache ringend, neben dem Eingang auf.
    «Schneestürme von außergewöhnlichem Ausmaß verhindern die Fortsetzung des Fluges», sagte er im Lehrbuchstil. «Der Flugplatz ist nicht ausreichend darauf eingerichtet, Gäste über Nacht zu beherbergen, aber wir werden alles tun, um es Ihnen komfortabel zu machen. Wir werden dafür sorgen, daß Feldbetten in der Eingangshalle aufgestellt werden.»
    Diese Mitteilung kam so unerwartet, daß die Delegation zunächst mit Schweigen reagierte; als ihren Teilnehmern aber aufging, was ein verlängerter Aufenthalt im luftleeren Raum des Wilnaer Flugplatzes bedeutete, legten alle gleichzeitig los.
    «Aber es ist doch sicher möglich, uns in die Stadt zu bringen?» fragte Dr. Clark hoffnungsvoll.
    «Vielleicht könnten wir in einem Hotel in Wilna übernachten?» schlug James Bailey vor.
    «Soll das etwa heißen, daß wir im Wartesaal alle gemeinsam schlafen sollen?» rief Mrs. Hoskins entrüstet aus.
    «Wir werden heute abend in Moskau erwartet», sagte Sir William Finch, der sich allein dafür zuständig hielt, die Sache in die Hand zu nehmen. «Ich glaube, es sind bereits Hotelzimmer für uns reserviert. Können wir unsere Gastgeber anrufen und ihnen Bescheid geben?»
    Der Dolmetscher zuckte die Achseln. Es hatte keinen Zweck, diesen ausländischen Ignoranten zu erklären, daß Wilna bekanntermaßen für Touristen gesperrt war. Er schien der Meinung zu sein, daß nur die letzte Frage eine Antwort verdiente.
    «Ich werde selbst nach Moskau telegrafieren», sagte er geduldig. «Ich werde mitteilen, daß die Zimmer für Sir Finch und seine Gruppe abbestellt und acht Zimmer für morgen reserviert werden sollen, vielleicht auch für übermorgen.»
    «Übermorgen?» ertönte allgemeines Wehgeschrei. Und in der herrschenden Aufregung wurde völlig übersehen, daß die Delegation nur aus sieben Mitgliedern bestand.
    Miss Baker, die sich mit Details wie der Bestellung von Hotelzimmern niemals abgab, ehe sie nicht dazu gezwungen war, bemerkte als einzige den Irrtum und seine Vorteile.
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