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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an
Autoren: Anne Telscombe
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wesentlich härterem Stoff gemacht, als ihre zarte Erscheinung vermuten ließ, hatte mit stoischem Gleichmut viel anstrengendere Reisen als diesen kurzen Flug durchgestanden. Aber sie erkannte sofort, daß es für sie nur von Vorteil sein konnte, die Rolle der schwächlichen alten Dame zu spielen und sich zurückzuziehen.
    «Sehr liebenswürdig», murmelte sie bescheiden und ließ sich bereitwillig zu einem der wartenden Wagen führen.
    Nach einer langen Pause gesellten sich eine völlig durchfrorene Patricia Cartwright und ein schlecht gelaunter James Bailey zu ihr.
    «Nächstesmal, wenn dieser alte Schwätzer eine Rede halten will», murrte er vor sich hin, als er sich fröstelnd im Wagen zusammenkauerte, «wird er sich hoffentlich einen wärmeren Platz dafür aussuchen. Sogar unsere Gastgeber verzogen sich nach der Hälfte bereits in Richtung Flugplatzgebäude. »
    «Mit diesem Sir William kriegen wir garantiert Arger», sagte Mrs. Cartwright. «Er hat jetzt schon gemerkt, wie herrlich es ist, Sprecher einer Delegation zu sein und Reden zu halten, und er ist auf so viele Reden und so lange Reden wie möglich aus.»
    «Ich habe nur einen Satz ganz am Anfang gehört», sagte Miss Baker. «Er hat gesagt: Was meinte er damit?»
    «Genau das, was ich eben gesagt habe», seufzte Mrs. Cartwright und versank während der Fahrt nach Moskau in Schweigen.
    Zuerst ging es durch eine eintönige Landschaft mit wenigen Häusern und Menschen, bis sie am Stadtrand einen Ameisenhaufen von Kränen und Baggern, Zementmischmaschinen und Ziegelhaufen passierten. Hier übernahm gerade ein Heer von Frauen die Nachtschicht.
    «Haben Sie eben die Frau auf der Dampfwalze gesehen?» rief Miss Baker aus und verdrehte sich fast den Hals, um dieses Phänomen zu bestaunen. «Und du lieber Gott, da ist eine mit einem Preßluftbohrer. Wie unweiblich. Und sehen Sie doch, da ganz oben ist ein Mädchen und legt Ziegel - und das mit all diesen Männern.»
    «Das», sagte James Bailey, «ist, wie ich glaube, sozialistische Gleichberechtigung. »
    «Für meinen Geschmack ist das entschieden zu viel Gleichberechtigung», schnaubte Miss Baker verächtlich.
    Schließlich näherte sich der Wagen einer Brücke und überquerte den Fluß. Auf der andern Seite tauchten die roten Mauern des Kremls, die Turmspitzen mit den roten Sternen und im Hintergrund die riesigen goldenen Kuppeln der Kremlkirchen auf.
    Mrs. Cartwright und James Bailey waren beeindruckt, wie es sich gehört, aber Miss Baker sagte naserümpfend, daß sie den Kreml von Ansichtskarten kenne, und rieb das Fenster auf der andern Seite wie ein Aladin, der aus seiner Lampe neue Bilder heraufbeschwören will.
    Durch die breiten Straßen hasteten in dicke gefütterte Mäntel vermummte, in hohen Filzstiefeln steckende Menschen. An einer Ecke entdeckten sie eine alte Bäuerin, die aus einem umgehängten Kasten Eis verkaufte. Offiziere der Roten Armee wateten fröhlich durch den Matsch und leckten vorsichtig an ihren Eiswaffeln.
    «Männer», sagte Miss Baker mit verächtlichem Ton. «Männer mit Eiswaffeln! »
    Als die Wagenkolonne schließlich vor dem Hotel Metropol hielt, hatte Miss Baker bereits eine sehr dezidierte Meinung über den Kommunismus, die sozialistische Gleichberechtigung und die russischen Männer. Und da sie ihre einmal gefaßten Meinungen äußerst selten änderte und nicht die geringsten Hemmungen hatte, denselben auch laut Ausdruck zu geben, versprach ihr Aufenthalt in Moskau bereits jetzt einige der wildesten Erwartungen ihres Neffen zu erfüllen.

    «Vielen Dank, aber ich möchte gern in meinem Zimmer essen», sagte Miss Baker energisch und auf englisch zu dem Zimmermädchen, das zum drittenmal erschien.
    «Essen du kommen.» Das Mädchen lächelte freundlich.
    «In - meinem - Zimmer. Hier.» Miss Baker betonte jedes Wort langsam und deutlich. Sie gehörte zu der Vorkriegsgeneration englischer Touristen, die eine Verständigung mit Ausländern nur für eine Frage ständigen Wiederholens hielt.
    «Du kommen.»
    «Bitte - bringen - Sie - die Speisekarte - und - ich - werde - Ihnen - zeigen - was - ich - haben - will.»
    «Kommen, bitte.»
    «Ich möchte gern an diesem Tisch essen», sagte Miss Baker und zeigte auf einen runden Tisch mit einer erdbeerfarbenen Samtdecke. «Ich möchte heute abend nicht in den Speisesaal hinuntergehen.»
    «Du kommen.»
    «Na
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