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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel
Autoren: Janne Teller
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einmal der Schmied – der sonst bestimmt und sehr gerne die Diskussion über Pferde und ihre Krankheiten und über andere Dinge, die einem am Herzen lagen, mit dem Fremden fortgesetzt hätte –, Ida-Annas Mutter zu widersprechen wagte, war Odin bald in ihrem Haus verschwunden. Die Dorfbewohner sahen einander an. Einige traten einen Schritt vor, andere einen zurück, aber es dauerte nicht lange, bis die Neugier über die Erziehung siegte und alle hinter Mutter Marie und dem Fremden vom Kontinent in das Haus drängten.
    Mutter Marie fühlte sich sehr geehrt, dass der Fremde sie als Erste in Smedieby besuchte. Andererseits fand sie es nur recht und billig, denn Mutter Marie hatte ihren Mann an das Meer verloren, als die Kinder noch klein waren, und seit dieser Zeit hatte sie sehr hart gearbeitet, und heute gehörten ihr mehr Schafe, mehr Ziegen und mehr Hühner als jedem anderen im Dorf.
    Auch wenn es noch mitten am Nachmittag war, begann es
langsam dunkel zu werden, und Mutter Marie hatte fünf kleine Kerzen angezündet, um sicherzugehen, dass der Fremde vom Kontinent den Reichtum und die Gemütlichkeit ihres Heims auch richtig zu würdigen wusste. Im Kamin flackerte ein lebhaftes Feuer, und der Geruch von gebratener Ente und starkem Weihnachtsbier verbreitete sich von der Küche aus im restlichen Haus. Mutter Marie führte Odin zum größten und besten Lehnstuhl in der Stube, schenkte ihm ein großes Weihnachtsbier ein und drängte ihn, es zu trinken. Doch sobald Odin sich hingesetzt hatte, fiel er in einen tiefen Schlaf, noch bevor er nach dem Becher greifen konnte.
    Die vielen Dorfbewohner, denen es gelungen war, sich in Mutter Maries Haus zu drängen, waren nicht wenig enttäuscht und – obwohl sie es nicht ganz zugeben wollten – auch ein wenig gekränkt, dass der Fremde vom Kontinent so abrupt das wache Leben verlassen hatte. Sie hatten noch so viele Fragen, was Leben und Gewohnheiten auf dem Kontinent anging, und jetzt mussten sie sich damit begnügen, das Äußere des Fremden zu betrachten.
    Da es Mutter Maries Haus war, hatte sie das Vorrecht. Die stattliche Frau sah nach der Ente, trocknete sich die fettigen Hände an der Schürze ab und drängte sich durch die Dorfbewohner in ihrer Stube zu dem Lehnstuhl mit dem schlafenden Odin. Dann beugte sie sich vor, bis sie Odins Gesicht so nahe war, dass sie die Wärme seines Atems spüren konnte. Der Fremde vom Kontinent hatte sein bestes Alter bereits überschritten. Seine Haut war rau, fast lederartig, sein Gesicht faltig und runzlig, und sowohl sein langes Haar als auch sein Bart waren so weiß, wie etwas nur weiß sein kann. Aber wenn man von seinem kleinen Wuchs, der dunklen Haut und dem fehlenden linken Auge absah, sah er nicht so furchtbar anders aus als die Einwohner von Smedieby. Mutter Marie war ein bisschen enttäuscht. Und vielleicht waren die wenigen ungewöhnlichen Züge nicht einmal ungewöhnlich, sondern ganz gewöhnlich für die Bewohner des Kontinents. Mutter Marie wollte jedenfalls nicht diejenige sein, die sich über etwas wunderte, das für jemanden, der ein wenig herumgekommen war, bestimmt ganz normal war. Als sie sich satt gesehen hatte, trat sie zurück, um die anderen vorzulassen,
und nachdem alle Dorfbewohner ihre Neugier befriedigt hatten, bat sie sie freundlich zu gehen, damit der Fremde vom Kontinent in Ruhe und Frieden schlafen konnte.
     
    Kaum hatte der letzte Einwohner Smediebys Mutter Maries Haus verlassen, als auch schon die Schafe vorbeitrabten. Ida-Anna zog sich einen dicken Pullover über den Kopf, schlang sich ein Tuch um den Hals und lief quer durch das Dorf zu Onkel Josefs Scheune. Sie öffnete die schwere Tür, drückte sich hinein und sah, dass alle anderen Kinder bereits da waren. Onkel Josefs Scheune war groß und dunkel, und es roch hier nach altem Heu und etwas Undefinierbarem, wie eine Mischung aus Melasse, Vogelkot und muffigem Brot. Das Dach schien sich ebenso hoch wie der Himmel über ihnen zu erheben, der Wind flüsterte durch die vielen Risse in den Wänden, und die Mäuse quiekten und raschelten in den Querbalken. Ein schmaler Streif grauen Dämmerlichts drängte sich durch ein Dachfenster, aber es war viel zu wenig, um die Dunkelheit in die Flucht zu schlagen. Die Kinder wussten nur zu gut, dass die Scheune bei Vollmond von Geistern heimgesucht wurde, und im Normalfall wagte sich keines von ihnen in ihre Nähe, aber genau deshalb hatte Ida-Anna diesen Ort als Treffpunkt gewählt.
    Ida-Anna überhörte die
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