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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne
Autoren: Evelyn Heeg
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verschiedene Gedanken durch den Kopf. Vielleicht kann man es bei mir ja auch gar nicht testen? Dieser Gedanke ist beunruhigend. Für mich war bisher immer klar, dass ich die Frage, ob ich diesen Gendefekt habe oder nicht, irgendwann definitiv beantwortet bekomme. Aber was ist, wenn es diese Gewissheit gar nicht gibt? Wie kann ich mit dieser Unsicherheit leben? Ein leises Gefühl der Panik steigt auf: Hätte ich mich vielleicht doch schon viel früher darum kümmern müssen. Geht mein Plan mit den Kindern vielleicht gar nicht auf?
    Der Waldweg steigt wieder an, und kurz darauf biegt ein kleiner Pfad ab, den man nur mit voller Konzentration hochfahren kann. Geschafft, wir stehen auf dem Flaunser, der eigentlich nur eine unspektakuläre Weggabelung im Wald ist.
    »Jedenfalls dauert der Prozess ziemlich lang.« Tino holt seine Windweste aus dem Trikot und zieht sie sich an. Ich nehme einen Schluck aus meiner Trinkflasche.
    »Was meinst du mit Prozess? Wie funktioniert das alles?«
    »Ich habe es dir ausgedruckt. Ist zu Hause in meiner Tasche. Lass uns weiterfahren.«
    Ich ziehe auch etwas an und konzentriere mich, die Abfahrt ist gerade am Anfang nicht ohne, zumal es schon leicht dämmert. Über steile und steinige Trails und Waldwege, vorbei an einer winzigen Kapelle auf einer Lichtung mit Weiden, wieder hinein in den Wald, einen letzten ausgewaschenen und gerölligen Weg mit tiefen Querrinnen hinunter – und wir rollen wieder auf Asphalt, zurück Richtung Freiburg. Beunruhigende Gedanken quälen mich. Ich muss mich zwingen, Ruhe zu bewahren. Jetzt panisch werden, bringt nichts. Das scheint alles viel komplexer zu sein, als ich mir das vorgestellt habe. Das ist mit schriftlichen Unterlagen sicherlich einfacher zu verstehen. Mann, ich wollte mich eigentlich noch nicht damit beschäftigen.
    Als mich vor Jahren die Mutter eines Freundes auf den Gentest angesprochen hat, war ich noch sehr ablehnend. Was soll es schließlich auch bringen, ob ich es weiß oder nicht? Ich konnte ja nichts dagegen tun! Sie gab mir damals einen Notizzettel, auf dem die Telefonnummer der Deutschen Krebshilfe stand. »Falls es dich irgendwann doch interessieren sollte«, sagte sie. Den Zettel heftete ich an die Pinnwand über meinem Schreibtisch, und da überlebte er sogar zwei oder drei Umzüge. Aber irgendwann habe ich ihn entsorgt. Es leuchtete mir immer noch nicht ein: Warum sollte ich mich einem Test aussetzen – nur damit ich weiß, dass ich ein hohes Erkrankungsrisiko habe?
    Aber einige Jahre später erzählte mir eine Frauenärztin von der Möglichkeit, das Brustgewebe vorsorglich entfernen zu lassen. Das war reiner Zufall damals. Ich war auf der Suche nach einer neuen Frauenärztin, und eine Freundin gab mir die Adresse. Die Ärztin stellte mir die üblichen Fragen, und ich erzählte mal wieder von der Spur der Vernichtung, die der Krebs in meiner Familie hinterlassen hatte. Sie fragte mich, ob ich von der Möglichkeit wüsste, mich testen zu lassen. Ich bejahte, schob aber hinterher, dass ich lieber in der Unwissenheit lebe als mit der ständigen Angst davor, dass es bald losgeht. Sie klärte mich dann auf, dass ich auch operiert werden könnte, eine vorsorgliche Mastektomie. Zunächst aber verordnete sie mir eine engmaschigere Vorsorge: einmal im Jahr Mammographie, zweimal jährlich Ultraschall.
    Mastektomie – die vollständige Entfernung des Brustgewebes –, wie das im Medizinerjargon heißt. Das war natürlich keine tolle Aussicht. Aber unter der Bedingung, dass es eine mögliche Behandlungsmethode gibt, erschien mir ein Test erstmals sinnvoll. Mit den Jahren reifte dann der Entschluss, das irgendwann anzugehen, eben mit dreißig. Allerdings bin ich nie wieder zu ihr in die Sprechstunde. Ich war einfach Männer als Gynäkologen gewohnt. Bei meinem nächsten Vorsorgetermin war sie im Urlaub, ich bin zu ihrer Vertretung, einem Mann, Dr. Schmieder. Bei ihm bin ich dann bis heute geblieben.

    »Wo hast du die Unterlagen?«
    Wir schälen uns aus den Radklamotten und befördern sie in die Waschmaschine.
    Tino holt seine Tasche, zieht einige Blätter heraus und hält sie mir unter die Nase. In seinem Gesicht klebt noch Schmutz und Staub von der Abfahrt durch den Wald.
    »Die Zentren sind überall in Deutschland. Das nächste ist … «, er fährt mit dem Finger über die Zeilen, » … in Ulm ist eines davon.«
    »Brustkrebszentrum Ulm? Nein, das geht nicht.«
    Tino sieht mich erstaunt an: »Warum geht das nicht?«
    Ulm geht gar
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