Nur Ein Toter Mehr
Ton. »Du hättest lieber noch ein Weilchen geschlafen, stimmt’s?«
Ich betrachte das blasse Jungengesicht. Die Etxes gehen selten in die Sonne.
»Dürfte ich dich was fragen?« Zum ersten Mal sieht er mich an. »Wie alt bist du?«
Es dauert, bis eine Antwort kommt.
»Einundzwanzig, glaube ich.«
»Mist!«, entfährt es mir. »Dann warst das damals sicher nicht du hier am Strand.« Ich hole tief Luft. Mein erster Versuch ist schon mal danebengegangen. Ich muss mich zusammenreißen, damit meine nächste Frage wie von einem netten Onkel klingt. »Sagst du mir noch, wo du wohnst?«
»Zu Hause, wo denn sonst?«
»Zu Hause, natürlich«, stammele ich verwirrt. »Dann … dann muss ich wohl deinem Vater einen Besuch abstatten … Ähm … ist er … ist er schon wach?«
»Da hinten kommt er.«
Rasch drehe ich mich um und erblicke in der Ferne eine gebeugte Gestalt. Ich spüre, dass ich bis über die Ohren rot geworden bin. So etwas hätte keines meiner Idole aus dem Konzept gebracht. Ich muss
richtig
in meine neue Rolle schlüpfen, sonst wird das nichts.
»Samuel Esparta, Privatdetektiv«, stelle ich mich also vor, wobei mir einfällt, dass ich unbedingt Visitenkarten brauche. »Ich versuche den Mord an Leonardo Altube aufzuklären. Sagt dir das was?«
Ich habe bewusst langsam gesprochen. Sein Gesicht zeigt jedoch keinerlei Regung.
»Auch wenn du damals erst elf warst, hast du doch sicher was davon mitbekommen. Sag, wer von deiner Familie war an jenem Mor…«
»Du bist von der Polizei.«
»Wie? Polizei? Ich? Nein!!! Wie kommst du darauf?!«
»Ich habe hier am Strand noch nie einen mit Krawatte und so einem Hut herumlaufen sehen«, erwidert er mürrisch und wendet sich zum Gehen. Rasch packe ich ihn am Arm.
»Ich schwöre dir, ich bin nicht von der Polizei, ich habe vielmehr ein persönliches Anliegen: Ich will einen Verbrecher überführen, der ungestraft mitten unter uns lebt.« Ich habe so schnell gesprochen, dass ich erst mal Luft holen muss, bevor ich weitersprechen kann. »Früher habt ihr nie zu zweit den Strand abgesucht. Hat dein Vater etwa Angst, seit er damals Eladios Schreie gehört hat? Falls so was noch mal passiert?«
»Opa kommt meistens auch mit runter.«
»Hm, dein Großvater oder dein Vater also.« Suchend drehe ich mich um. »Deinen Großvater sehe ich aber nicht.«
»Der ist beim Kleinen geblieben«, entgegnet der junge Etxe, während er sich resolut aus meinem Griff befreit.
»Was für einem Kleinen?«
»Meinem Sohn«, brummt er nur und stiefelt grußlos davon.
Ja habt ihr denn keine Frau im Haus?, will ich ihm schon hinterherrufen, aber dann fällt mir die Krux der Etxes wieder ein, und ich denke voller Mitleid: Mein Gott, vier Generationen und niemand, der sich um sie kümmert. Mit einem lauten
»Adiós!«
verabschiede ich mich von ihm und wende mich dann dem Vater zu, der direkt auf mich zukommt.
Er bleibt zwei Schritte vor mir stehen. Ein echter Etxe. Über der Schulter ein voller Sack. Er versucht, meinem Blick standzuhalten, muss aber die ganze Zeit blinzeln.
»Ich sehe von Mal zu Mal schlechter. Deshalb markiert Inocencio mit Stöcken alles, was er findet, und ich sammle es auf«, erklärt er ungefragt und will gleich weiterschlurfen.
»Halt, warten Sie!«, rufe ich eilig. »Ich bin Samuel Esparta, Privatdetektiv. Ihrem Alter nach müssten Sie derjenige sein, der vor zehn Jahren einem der Altube-Zwillinge das Leben gerettet hat. Hier, an diesem Strand! Erinnern Sie sich?«
Als wäre er plötzlich zur Salzsäule erstarrt, gleitet ihm der Sack aus der Hand, plumpst in den Sand, und sein Kopf sackt zwischen die Schultern. Auf die Begegnung mit einem Privatdetektiv ist er wohl nicht gefasst gewesen.
»Es war schrecklich«, murmelt er, »einfach schrecklich.«
»Ja, es war ein grausiges Verbrechen. Das nicht ungestraft bleiben darf.«
»W-was?«
»Der Täter läuft noch immer frei herum, lebt mitten unter uns. Der Mord wurde schließlich nie aufgeklärt.«
Da versagen Lucio Etxes Kräfte, er muss sich setzen, neben seinen Sack in den Sand.
»Furchtbar war das. Ich renne hoch und wieder runter, dass mir Zunge aus dem Hals hängt, und dann kann ich bloß einen retten. Nur einen, das war das Schrecklichste … Warum nicht beide?« Er blickt zu mir hoch, sein Blick ist verzweifelt, doch auf einmal schüttelt er heftig den Kopf. »Nein! Ich will nicht darüber reden. Ich will nicht, hörst du?!«
Ein gewiefter Privatdetektiv wie Samuel Esparta lässt jedoch nicht
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