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Nur ein Blick von dir

Nur ein Blick von dir

Titel: Nur ein Blick von dir
Autoren: Anne Wall
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kaufen«, fuhr Marina düster fort, »aber ich habe Blumen für ein Kind gekauft. Für die Beerdigung eines achtjährigen Mädchens.«
    »Oh mein Gott«, sagte Silke.
    »Deshalb war meine Tarnung als Sozialpädagogin so gut«, erklärte Marina. »So kam ich in die Familien hinein. Von außen sieht man das ja oft nicht. Und trotzdem konnte ich sie nicht retten. Es war zu spät.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen veränderten sich, als würden Bilder vor ihrem Inneren ablaufen. »Es sind nicht nur die Männer, auch die Frauen. Sie schauen einfach zu oder verkaufen ihre Kinder an den Meistbietenden. Besoffene Mütter, die herumtorkeln und schon das nächste Kind im Bauch haben.« Ihr Gesicht verzog sich angewidert. »Sie sorgen immer für Nachschub. Selbst wenn die Kinder dann sterben.«
    »Wie schrecklich.« Silke konnte es nicht fassen. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.«
    »Es ist viel schlimmer, als die meisten Leute denken. Es wird immer von Verwahrlosung gesprochen, von Kinderarmut, aber niemand, der das nicht erlebt hat, weiß, was das wirklich bedeutet. Geld ist das geringste Problem. Es ist die Verwahrlosung der Gefühle. Männer, die Kinder missbrauchen, Frauen, die einfach wegsehen oder ihre Kinder verkaufen – die sind nicht besser als Tiere. Aber Tiere sperrt man ein oder tötet sie, wenn sie zu gefährlich werden. Diese Frauen bekommen ein Kind nach dem anderen, und niemand hindert sie daran.«
    Silke war so erschüttert, dass sie für einen Moment nichts sagen konnte. »Es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke«, sagte sie. »Und ich kann mir noch weniger vorstellen, wie du das ausgehalten hast.«
    »Es sind jetzt viele Leute ins Gefängnis gewandert dafür. Und da werden sie sehr lange bleiben. Das war es wert«, sagte Marina. Sie atmete tief durch. »Aber das sind viel zu ernste Gespräche für einen sonnigen Sonntagmorgen nach einer«, ihre Augen blitzten jetzt wieder mutwillig, »märchenhaften Nacht.«
    Silke lächelte. »Ich dachte, es wäre gar nicht geschehen. Heute Morgen, als ich aufwachte, dachte ich, ich hätte nur geträumt, dass du dagewesen bist.«
    »Und ich dachte immer, ich wäre so ein großes Mädchen, mich könnte man kaum übersehen«, scherzte Marina.
    »Nein, das kann man wirklich nicht.« Silke küsste sie liebevoll. »Wie wäre es jetzt mit einem traumhaften Spaziergang?« Sie legte leicht den Kopf schief. »Falls du keine anderen Pläne hast.«
    »Hm, da muss ich erst mal ganz schwer nachdenken.« Marina machte ein furchtbar nachdenkliches Gesicht. »Spaziergang ist bestimmt nicht schlecht, das andere wäre aber auch schön.«
    »Da stimme ich dir zu«, sagte Silke, »aber ich habe komischerweise jetzt ein unbezwingbares Bedürfnis nach frischer Luft. Wahrscheinlich weil ich in letzter Zeit so viel dringehockt habe. Wärst du sehr böse . . .?«
    Marina lachte. »Nein. Das Bett soll sich auch mal ausruhen.«
    »Damit es nachher wieder fit ist?«, lachte Silke. »Komm, wir ziehen uns an. Ich glaube, einen Sonntagsspaziergang habe ich schon lange nicht mehr gemacht.«
    Sie schlenderten am See entlang, der nur zehn Minuten von Silkes Wohnung entfernt lag, Arm in Arm wie ein altes Ehepaar.
    Silke fühlte sich einfach nur wohl. Sie hätte nie gedacht, dass sich ihre Stimmung von einem Tag auf den anderen so ändern könnte. Nicht nach dem, wie sie sich vorher gefühlt hatte. Sie schaute zu Marina hoch, die anscheinend ihren Gedanken nachhing, sie sprach schon eine Weile nicht.
    Silke wollte die Ruhe nicht stören und kuschelte sich nur etwas enger an ihren Arm. Marina schaute lächelnd auf sie hinunter. Sie brauchten keine Worte.
    Was denkt sie wohl? Silke betrachtete Marinas Gesicht von der Seite, das scharf geschnittene Profil. Ich kenne sie überhaupt nicht, und doch habe ich das Gefühl, ich kenne sie schon ewig. Alles, was sie zusammen erlebt hatten, war so außergewöhnlich, so wunderbar auf der einen Seite und auch wieder schrecklich auf der anderen, dass sie den Eindruck hatte, sie hätten schon ein ganzes Leben zusammen verbracht.
    Noch einmal schmiegte sie sich enger an Marina.
    »Was ist? Du bist so still«, fragte Marina leise.
    »Du ja auch«, antwortete Silke. »Ich wollte dich nicht bei deinen Gedanken stören.«
    »Das ist aber sehr rücksichtsvoll von dir.« Marina lächelte. »Ich habe an dich gedacht«, fuhr sie dann weich fort. »Es erschien mir so unwahrscheinlich, dass wir jetzt hier wie ganz normale Leute einen Spaziergang machen.
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