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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer
Autoren: Mary Alice Monroe
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Korridor und gelangte zu den zwei Schlafräumen ganz hinten – zu ihrem und Palmers ehemaligen Zimmern. Auf Schritt und Tritt spürte sie die Last der Erinnerungen, die in den leicht muffig riechenden Wänden und dunkel gewordenen Winkeln lauerten.
    „Deine Kammer ist bereits hergerichtet“, verkündete Lovie und öffnete die Zimmertür. Ein Stoß frischer Seeluft wehte in den Flur. „Soll ich lieber das Fenster schließen?“
    „Nein, lass nur. Ich hab das Fenster gern offen.“ Typisch Mutter, dass sie nicht die Klimaanlage benutzt, dachte Cara, während sie tief die feuchte, süß duftende Luft einatmete, die sich in alle Glieder auszubreiten schien. Mutter und Tochter sahen einander an.
    „Im Bad sind saubere Handtücher.“ Lovie machte eine rasche Handbewegung in Richtung des Badezimmers.
    „Prima.“
    „Bedien dich ruhig bei den Toilettenartikeln. Seife, Shampoo, es ist alles da. Eine Extra-Zahnbürste auch.“
    „Ich habe meine zwar mitgebracht, aber trotzdem vielen Dank.“
    „Es dauert ein wenig, bis das Wasser warm ist, wenn es aus der Leitung fließt.“
    „Ich entsinne mich.“
    „Also dann …“ Lovie zögerte und verschränkte nervös die Hände. Einen Augenblick lang standen Mutter und Tochter verlegen herum, als wären sie sich völlig fremd. „Dann lass ich dich jetzt allein, damit du dich etwas frisch machen kannst.“
    „Das wäre prima.“
    Lovies Hand verharrte über der Türklinke, und im Gesicht ihrer Mutter spiegelte sich eine solche Sehnsucht, dass Cara sich von dem schmerzhaften Anblick abwenden musste.
    „Lass dir Zeit“, meinte Lovie und zog die Tür hinter sich zu.
    Klickend fiel die Tür ins Schloss, worauf Cara, endlich allein, einen Seufzer der Erleichterung ausstieß und ihren Koffer auf den Boden sacken ließ, wo er dumpf aufschlug. Bedenkt man die Fallstricke, denen wir ausgewichen sind, ist die erste Runde nicht schlecht gelaufen, dachte sie. Die lange Fahrt hatte sie ausgelaugt, und ihre innere Anspannung äußerte sich nun in einem pochenden Kopfschmerz. Während sie sich den verspannten Nacken massierte, ließ sie den Blick bedächtig durch ihr einstiges Zimmer wandern. Zu ihrem Erstaunen befand es sich noch in dem Zustand, in dem sie es vor zwanzig Jahren verlassen hatte. Das alte schwarze Doppelbett mit dem eisernen Gestell und der schrillen, pinkfarbenen Tagesdecke nahm fast die gesamte Zimmerfläche ein. Baumwollvorhänge in Rosa und Weiß flatterten vor dem einzigen Fenster über der rustikalen Kiefernkommode mit der Deckplatte aus rosarotem Marmor. Ein schmale Tür neben dem Fenster führte auf die mit engmaschigen Drahtgittern gegen die Mückenplage gesicherte vordere Veranda.
    Es war ein Jungmädchenzimmer, spartanisch und doch gemütlich. Bilder von Palmen hatten zwar die Rockstar-Poster ersetzt, aber die Bücher aus Jugendtagen, in denen Cara Jahr für Jahr während der Sommertage geschmökert hatte, waren noch alle da. Mit dem Finger fuhr sie über vertraute Titel: Carolyn Keenes Mystery-Storys um die Heldin Nancy Drew, „Durch Zeit und Raum“ von Madeleine L’Engle, Tolkiens „Der kleine Hobbit“, Emily Brontës „Sturmhöhe“ und Robert M. Pirsigs Roman „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“. Literatur, die dazu beigetragen hatte, Bildung und Wertvorstellungen eines jungen Mädchens zu formen. Welche Werke, fragte Cara sich, muss ich nun noch meinem Bücherregal hinzufügen, auf dass der Inhalt mir durch diesen neuen Lebensabschnitt hilft?
    Ganz kurz schaute sie sich im Spiegel an und hielt, von ihrem eigenen Spiegelbild überrascht, abrupt inne. Es war ein unwirklicher Augenblick, in dem die Vergangenheit eingefroren zu sein schien. Jetzt, da sie wieder hier in ihrem alten Zimmer stand, hätte sie fast erwartet, das magere Mädchen mit dem dünnen Haar zu sehen, das einst mit tränenerfüllten Augen in diesen Spiegel gestarrt hatte. Jenes arme, bedauernswerte Mädchen.
    Cara konnte nicht als typische Südstaatenschönheit durchgehen. Sie galt nicht als „Southern Belle“ wie ihre Mutter. An Cara war alles etwas zu groß geraten. Sie maß knapp einen Meter achtzig, wirkte zu dünn und hatte einen zu flachen Busen. Ihre Füße waren riesig, ihre Lippen zu voll für das schmale Gesicht. Und ihren Teint hielt sie für völlig danebengeraten. Stets haderte sie mit dem Herrgott, dem ihrer Ansicht nach ein Irrtum unterlaufen sein musste: Sie hatte die Gene ihres Vaters geerbt und war groß, dunkelhaarig und dunkeläugig geworden. Palmer
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