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Nur Der Tod Kann Dich Retten

Titel: Nur Der Tod Kann Dich Retten
Autoren: Joy Fielding
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Einbruch der Dunkelheit kaum mehr passierte als ein gelegentlicher Autounfall oder eine Kneipenschlägerei. Es war fast sechs, und wenn er noch ungefähr eine Stunde blieb, bestand eine gute Chance, dass die Enttäuschungen des Tages von einem herrlichen Sonnenuntergang wettgemacht wurden. John liebte den Sonnenuntergang. Nicht nur, weil die Palette strahlender Orange-, Rosa- und Gelbtöne vor dem türkisfarbenen Himmel von so atemberaubender Schönheit waren, dass sein Herz jubeln wollte, sondern auch weil der gesamte Vorgang so wunderbar ordentlich vonstattenging. Und nachdem er einen Gutteil der letzten zwanzig Jahre damit zugebracht hatte, das Chaos anderer Leute zu beseitigen, hatte John Weber eine tiefe Wertschätzung für alles Ordentliche entwickelt.
    Wenn er bis nach Sonnenuntergang im Büro blieb, würde er sich natürlich Paulines altvertraute Tirade anhören müssen, dass er nie zu Hause sei und immer nur arbeite, und ob er nicht mit ihr zusammen sein und keine Zeit mit seiner Tochter verbringen wolle.
    Die Antwort auf die erste Frage war leicht: Nein, er wollte nicht mit ihr zusammen sein. Die Antwort auf die zweite Frage lautete ebenfalls nein, wenngleich nicht ganz so einfach. Aber so ungern John Weber es zugab, waren ihm sowohl seine Frau als auch sein einziges Kind seltsam gleichgültig. Und während es noch einigermaßen akzeptabel war, die Frau nicht zu mögen, die man geheiratet hatte, weil man zu betrunken oder zu unvorsichtig gewesen war, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen es haben könnte, kein Kondom zu benutzen, war es eine vollkommen andere Sache, sein eigen Fleisch und Blut nicht zu mögen. Ihre Tochter Amber, benannt nach der Farbe des Weins, den sie in der Nacht ihrer Empfängnis getrunken hatten, war jetzt sechzehn und schon
knapp 1,80 Meter groß. Sie hätte eine imposante Erscheinung sein können, wenn sie nicht so verdammt dünn gewesen wäre, und zwar nicht nur normal und alltäglich dünn, sondern so hager und knochig, dass einen schon ihr bloßer Anblick nervös machte. Deswegen versuchte er auch, sie nicht anzusehen. In letzter Zeit hatte er selbst flüchtigen Blickkontakt gemieden und sie nur angeguckt, wenn es absolut unumgänglich war, wobei er sich alle Mühe gegeben hatte, nicht zusammenzuzucken. Einmal hatte er sich allerdings nicht beherrschen können, und sie hatte seinen entsetzten Blick gesehen und war weinend aus dem Zimmer gerannt. Das war schon Monate her, aber er hatte noch immer ein schlechtes Gewissen.
    Schließlich war das Ganze seine Schuld.
    Er hatte mit Pauline gestritten, weil sie vergessen hatte, wegen des leckenden Wasserhahns im Bad den Klempner anzurufen, obwohl das verdammte Tropfen ihn die halbe Nacht wach gehalten hatte. Sie hatte versprochen, es am Morgen gleich als Erstes zu tun, und natürlich nicht mehr drangedacht. Also musste er die chinesische Wasserfolter eine weitere Nacht ertragen und am Morgen selbst auf den Klempner warten. Er war noch immer wütend – verdammt, er war auch heute, fast acht Monate später, noch wütend -, als er Amber das letzte Stück Pfirsichkuchen aus dem Kühlschrank holen sah, das er sich aufgespart hatte. Er hatte eine blöde Bemerkung gemacht, dass sie aufpassen müsse, wenn sie nicht irgendwann aussehen wollte wie Kerri Franklins Tochter – ein klassischer Fall von Glashaus und Steinen -, und ehe er sich versah, war der Rest Pfirsichkuchen im Müll gelandet, Amber hatte Pfunde verloren wie nichts und wog jetzt vielleicht noch gut 55 Kilo. 1,80 Meter groß und 55 Kilo! Und alles war seine Schuld. Er war ein schrecklicher Ehemann und ein noch schlechterer Vater. Wie sollte er nach Hause gehen, wenn er jedes Mal, wenn er den unaufgeräumten Bungalow betrat, von seinem eigenen Versagen begrüßt und rasch in die ausgebreiteten Arme der Verzweiflung getrieben wurde?

    Er hatte versucht, mit Pauline über ihre Tochter zu reden, aber sie hatte seine Sorgen beiseitegewischt. » Pas de problème «, hatte sie in ihrer ärgerlichen Angewohnheit, französische Sätze in ihre Unterhaltung zu streuen, genäselt. Heutzutage wäre es modisch, superschlank zu sein. Sie zählte eine Reihe Fernsehschauspielerinnen auf, von denen er nie gehört hatte, und wies auf das Cover von einem Dutzend Modezeitschriften, die wie Flicken eines Überwurfs auf dem Bett verstreut lagen. Auf allen posierten junge Frauen ohne Figur mit riesigen Köpfen auf einem Strichkörper. Was war aus Arsch und Titten geworden, hatte er sich
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