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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: Colin Forbes
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werden die Kinder mit Rädern statt mit Beinen auf die Welt kommen‹ war einer seiner Lieblingsaussprüche. Boisseau erwartete ihn im Erdgeschoß des düsteren Gebäudes. »Tut mir leid, daß Sie klatschnaß geworden sind, Chef, aber er will mit niemand anderem sprechen als mit dem Polizeipräfekten. Der Mann heißt Gaston Martin. Er ist gerade aus Guyana zurückgekehrt - zum erstenmal seit dreißig Jahren, stellen Sie sich das mal vor…«
     Später fügte Grelle die bizarre Geschichte zu einem Ganzen zusammen. Guyana ist das einzige überseeische Departement in Lateinamerika, das noch immer zu Frankreich gehört. Früher war Guyana der Öffentlichkeit vor allem wegen des berüchtigten Straflagers auf der Teufelsinsel bekannt; später war es aus den Schlagzeilen verschwunden und gehörte seitdem zu den verschlafeneren Teilen des riesigen amerikanischen Subkontinents. Gaston Martin, ein Mann Ende Sechzig, hatte seit dem Zweiten Weltkrieg sein gesamtes Leben an diesem abgelegenen Ort verbracht. 
    Dann, zum erstenmal seit mehr als dreißig Jahren, war er an Bord eines Frachters heimgekehrt, der am 9. Dezember in Le Havre festgemacht hatte - weniger als vierundzwanzig Stunden nach dem versuchten Attentat auf Guy Florian. Nach Paris war er mit der Bahn gekommen und hatte seinen kleinen Handkoffer im Cécile gelassen, einem schmierigen kleinen Hotel der Rive Gauche. Danach war er zu einem Spaziergang aufgebrochen. Dabei war er schließlich zum Elysée-Palast gelangt, wo er Punkt 20.30 Uhr beim Betreten der Fahrbahn von einem Wagen überfahren worden war.
     Als Grelle Boisseau in einen Raum folgte, der nur mit einem Patienten belegt war, wußte er noch nichts von all dem. Der Präfekt rümpfte die Nase, als er Antiseptika roch. Als kerngesunder Mann verabscheute er Krankenhausgerüche.
     Gaston Martin lag in dem einzigen Bett des Zimmers. Daneben standen eine Schwester und ein Arzt, der den Kopf schüttelte, als Grelle nach dem Befinden des Patienten fragte. 
    »Ich gebe ihm noch eine Stunde«, flüsterte der Arzt. 
    »Vielleicht weniger. Der Wagen ist direkt über ihn hinweggerollt … Die Lungen sind verletzt. Nein, es ändert nichts, wenn Sie ihm Fragen stellen, aber es kann sein, daß er nicht antwortet. Ich werde Sie jetzt ein paar Minuten mit ihm allein lassen …« Er runzelte die Stirn, als Boisseau auch einen Wunsch äußerte. 
    »Die Schwester auch? Wie Sie wünschen …«
     Warum sehen so viele Krankenzimmer wie Todeszellen aus, fragte sich Grelle, als er ans Bett trat. Martins Kopf war mit strähnigem grauen Haar bedeckt; unter seiner hervorspringenden Hakennase hing ein Schnauzbart herab. Mehr Charakter als Grips, stellte Grelle fest, während er einen Stuhl ans Bett zog. Boisseau eröffnete die Unterhaltung. »Dies ist der Polizeipräfekt von Paris, Marc Grelle. Sie wollten ihn sprechen…«
     »Ich habe ihn … in den Elysée gehen sehen«, sagte Martin mit bebender Stimme.
    »Wen gesehen?« fragte Grelle leise. Der Mann aus Guyana streckte den Arm aus und ergriff die Hand des Präfekten, was bei Grelle ein komisches Gefühl hervorrief, ein Gefühl der Hilflosigkeit. »Wen gesehen?« wiederholte er.
    »Den Leoparden …«
    In Grelle drehte sich etwas, dann fiel ihm etwas anderes wieder ein, und er fühlte sich besser. In den wenigen Sekunden, bevor er antwortete, ging ihm der Inhalt wer weiß wie vieler Akten durch den Kopf, die er irgendwann einmal gelesen hatte. Er versuchte, sich an exakte Details zu erinnern. Er wußte sofort, wen dieser Mann meinte, und als Grelle die zweite Einzelheit einfiel, wurde ihm klar, daß Martin fantasieren mußte.
    »Ich weiß nicht, wen Sie meinen«, sagte Grelle vorsichtig.
    »Kommunistischer Résistance-Führer … im Departement Lozère.« 
    Martin packte Grelles Hand und kämpfte, um sich auf dem Kissen abzustützen. Sein Gesicht war mit Schweißperlen bedeckt. Boisseau versuchte, ihn davon abzuhalten, aber Grelle sagte, er solle den Mann lassen. Grelle verstand die verzweifelte Reaktion: Martin versuchte nur, noch ein wenig länger am Leben zu bleiben; er fühlte, daß er dies nur schaffen würde, wenn er sich aus seiner liegenden Stellung befreite.
    »Kommunistenführer der Kriegszeit …«, wiederholte Martin. 
    »Der … jüngste … der Résistance …«
    »Sie können ihn nicht in den Elysée gehen gesehen haben«, sagte Grelle ihm sanft. »Da sind Wachen postiert, Wachtposten am Eingangstor …«
    »Sie haben salutiert …«
    Grelle spürte den Schock,
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