Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Titel: Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
Jazz. Er schrieb das nicht bloß so, er war davon überzeugt: der Erfinder des Jazz. Er spielte Klavier. Immer nur halb auf der Stuhlkante sitzend und mit zwei Händen, die wie Schmetterlinge waren. Schwerelos. Er hatte in den Bordellen von New Orleans angefangen, und dort hatte er auch gelernt, die Tasten ganz sacht anzutippen und die Töne zu streicheln: Ein Stockwerk höher verlustierten sie sich, und sie wollten keinen Radau. Sie wollten eine Musik, die hinter die Vorhänge und unter die Betten glitt, ohne zu stören. Er machte solche Musik. Und darin war er wirklich der Beste.
    Irgendwer erzählte ihm irgendwo mal was von Novecento. Sie mußten was gesagt haben wie: Der ist der Größte. Der größte Pianist der Welt. Es hört sich vielleicht verrückt an, aber so was konnte vorkommen. Nie hat Novecento auch nur einen Ton woanders als auf der Virginian gespielt, und doch war er damals auf seine Art berühmt, eine kleine Legende. Die Leute, die auf dem Schiff gewesen waren, erzählten von einer seltsamen Musik und von einem Pianisten, der vier Hände zu haben schien, so viele Töne spielte er. Kuriose Geschichten machten die Runde, die manchmal sogar stimmten, wie die des amerikanischen Senators Wilson, der die ganze Reise in der dritten Klasse machte, weil Novecento dort nicht die normalen Noten spielte, sondern seine eigenen, die so normal nicht waren. Da unten stand ein Klavier, und nachmittags oder spätnachts ging er dorthin. Erst hörte er zu. Er wollte, daß die Leute ihm die Lieder, die sie kannten, vorsangen, manchmal holte jemand eine Gitarre oder eine Harmonika raus, irgendwas, und stimmte Melodien an, die sonstwoher kamen … Novecento hörte zu. Dann begann er, sacht die Tasten anzutippen, während die Leute sangen oder musizierten, er tippte die Tasten an, und nach und nach wurde ein richtiges Musizieren daraus; aus dem Klavier – einem Pianino, schwarz – kamen Töne, und es waren Töne aus dem Jenseits. Alles war darin enthalten: alle auf einmal, alle Melodien der Welt. Man blieb wie vom Donner gerührt stehen. Und Senator Wilson blieb wie vom Donner gerührt stehen, er hörte sich das alles an, und mal abgesehen von dieser Sache mit der dritten Klasse, er piekfein mitten in diesem ganzen Gestank, denn es war wirklich der reinste Gestank, mal abgesehen davon, mußten sie ihn bei der Ankunft mit Gewalt wegschaffen, denn wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er an Bord geblieben, um für die restlichen Jahre seines gottverdammten Lebens Novecento zuzuhören. Im Ernst. Es stand in den Zeitungen, aber es stimmte wirklich. So ist es wirklich gewesen.
    Also, jemand ging zu Jelly Roll Morton und sagte: Auf dem Schiff da ist einer, der macht mit dem Klavier, was er will. Wenn er Lust hat, spielt er Jazz, doch wenn er keine Lust hat, spielt er was, was wie zehn Jazzstücke auf einmal klingt. Mit Jelly Roll Morton war nicht gut Kirschen essen, das wußten alle. Er sagte: »Wie kann denn einer gut spielen, der sich schon in die Hosen macht, wenn er von Bord eines bescheuerten Dampfers gehen soll?« Und er lachte los wie ein Irrer, er, der Erfinder des Jazz. Dabei hätte es bleiben können, nur daß da einer sagte: »Lach’ du ruhig, denn falls der Typ sich mal entschließt, von Bord zu gehen, wanderst du mit deiner Musik zurück in den Puff, weiß Gott, in den Puff.« Jelly Roll hörte auf zu lachen, zog eine kleine Pistole mit Perlmuttgriff aus der Tasche, zielte auf den Kopf des Kerls, der das gesagt hatte, und schoß nicht, sondern fragte: »Wo ist dieser Scheißkahn?«
    Was ihm vorschwebte, war ein Duell. Das war damals so üblich. Sie forderten sich mit Bravourstückchen heraus, und am Ende gewann einer. Musikermacken. Kein Blut, aber eine ordentliche Portion Haß, richtiger Haß, unter der Haut. Noten und Alkohol. So was konnte auch eine ganze Nacht dauern. Und das war es, was Jelly Roll vorschwebte, um mit dieser Geschichte von dem Pianisten auf dem Ozean und mit diesem ganzen Quatsch ein für allemal Schluß zu machen. Um ein für allemal Schluß zu machen.
    Das Problem war nur, daß Novecento, ehrlich gesagt, nie in Häfen spielte, er wollte einfach nicht. Sie waren schon ein bißchen Festland, die Häfen, und das behagte ihm nicht. Er spielte nur da, wo er wollte. Und er wollte mitten auf dem Meer, wenn das Land nur noch ferne Lichter oder eine Erinnerung oder eine Hoffnung ist. So war er eben. Jelly Roll Morton fluchte ausgiebig, dann bezahlte er die Fahrkarte – einmal Europa und zurück –
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher