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Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Titel: Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten
Autoren: Alessandro Baricco
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gleiten begann … Es war eine Scheißsituation, wirklich wahr, bis zum Hals in diesem Unwetter und dazu noch dieser Spinner auf seinem Hocker – auch der ein schönes Stück Seife – , die Hände reglos auf den Tasten.
    »Wenn du jetzt nicht aufsteigst, steigst du nie mehr auf«, sagte der Spinner lächelnd. (Er klettert auf eine Konstruktion, die halb Kinderschaukel und halb Trapez ist.)
    »Okay. Schicken wir alles zum Teufel, okay? Was gibt’s schon zu verlieren, na gut, ich komme auf deinen blöden Hocker, also gut, ich bin drauf, und jetzt?«
    »Jetzt hab keine Angst.«
    Und er begann zu spielen. 
     
    (Ein Klavier-Solo erklingt. Es ist eine Art Tanz, ein Walzer, lieblich und sanft. Das Gerät beginnt zu schaukeln und trägt den Schauspieler über die ganze Bühne. Je mehr der Schauspieler erzählt, um so ausladender wird die Bewegung, bis er die Kulissen streift.) 
     
    Also, keiner ist verpflichtet, mir das zu glauben, und ehrlich gesagt, ich selbst würde es auch nie glauben, wenn man es mir erzählte, aber Tatsache ist, daß dieses Klavier anfing, über das Parkett des Ballsaals zu gleiten, und wir immer hinterher, mit Novecento, der spielte und keinen Blick von den Tasten wandte, er schien woanders zu sein, während das Klavier den Wellen folgte, hin und her, es drehte sich im Kreis, steuerte genau auf die Glastür zu, und als es sie fast schon erreicht hatte, hielt es an und glitt allen Ernstes sacht zurück, es sah aus, als würde das Meer es wiegen und auch uns wiegen, und ich begriff überhaupt nichts mehr, und Novecento spielte, er ließ sich überhaupt nicht beirren, und es war klar, daß er nicht bloß spielte, sondern daß er dieses Klavier lenkte, okay?, mit den Tasten, mit den Tönen, was weiß ich, er lenkte es, wohin er wollte, es war verrückt, aber so war’s. Und während wir zwischen den Tischen kreiselten und Lüster und Sessel streiften, begriff ich, daß wir in diesem Augenblick, daß wir in diesem Augenblick wirklich mit dem Ozean tanzten, wir mit ihm. verrückte und perfekte Tänzer, engumschlungen in einem wirren Walzer auf dem goldenen Parkett der Nacht. Oh yes.
    (Er beginnt, mit weit ausholenden Bewegungen und glücklicher Miene auf seiner Konstruktion über die Bühne zu schwingen, während der Ozean verrückt spielt, das Schiff tanzt und die Musik des Klaviers eine Art Walzer vorgibt, der mit verschiedenen Klangeffekten beschleunigt, abbremst, kreiselt, kurz, den großen Tanz »lenkt«. Dann, nach dem x-ten Kunststück verpatzt er eine Drehung und landet schwungvoll hinter den Kulissen. Die Musik versucht zu »bremsen«, aber es ist schon zu spät. Der Schauspieler kann nur noch
    »O Gott …«
    schreien und verschwindet geräuschvoll in einer Seitenkulisse. Man hört einen Heidenlärm, als hätte er eine Glasscheibe, einen Bartisch, einen Salon oder sonstwas zerteppert. Ein Höllenspektakel. Kurze Pause und Stille. Dann kommt der Schauspieler aus der Kulisse, hinter der er verschwunden war, langsam wieder hervor.)  
     
    Novecento meinte, er müsse diesen Trick noch ausfeilen. Ich meinte, man müsse doch eigentlich nur die Bremsen richtig einstellen. Der Kapitän meinte, als das Unwetter vorbei war, (erregt und schreiend)
    »HIMMEL, ARSCH UND ZWIRN MACHT, DASS IHR BEIDE IN DEN MASCHINENRAUM KOMMT UND BLEIBT DA GEFÄLLIGST, SONST BRINGE ICH EUCH EIGENHÄNDIG UM, UND DAMIT DAS KLAR IST: IHR BEZAHLT DAS ALLES. BIS AUF DEN LETZTEN HELLER, UND WENN IHR EUER GANZES LEBEN DAFÜR SCHUFTEN MÜSST. SO WAHR DIESES SCHIFF Virginian HEISST UND IHR DIE GRÖSSTEN RINDVIECHER SEID, DIE JE DEN OZEAN DURCHPFLÜGT HABEN!«
    In jener Nacht da unten im Maschinenraum wurden Novecento und ich Freunde fürs Leben. Und für immer. Wir verbrachten die ganze Zeit damit, auszurechnen, wieviel das alles in Dollar sein mochte, was wir da zertrümmert hatten. Je größer die Summe wurde, desto herzlicher lachten wir. Und wenn ich so darüber nachdenke, scheint mir, daß das Glücklichsein war. Oder so was ähnliches.
    In jener Nacht fragte ich ihn auch, ob diese Geschichte stimme, die mit ihm und dem Schiff, also daß er da geboren war und das alles … ob es wahr sei, daß er es noch nie verlassen hatte. Und er antwortete: »Ja.«
    »Aber auch wirklich wahr?«
    Er war todernst.
    »Wirklich wahr.«
    Ich weiß auch nicht, aber da spürte ich unwillkürlich und ohne ersichtlichen Grund einen kurzen Schauder: Es war ein Schauder der Angst.
    Angst.
    Einmal fragte ich Novecento. woran zum Teufel er denke, wenn
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