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Notruf 112

Notruf 112

Titel: Notruf 112
Autoren: Christian Seifert , Christian
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ich 1993 ein einziges Mal mit eigenen Augen gesehen, wie ein defekter Defibrillator einen Herzpatienten mehrfach hintereinander ohne jeden Anlass defibrillierte. Das ist natürlich ein sehr beängstigender Zustand für den Patienten, der mit großen Schmerzen, zeitweiliger Bewusstlosigkeit und auch Todesangst einhergeht.
    Mit genau solch einem Patienten habe ich es nun scheinbar zu tun. Der Notruf kommt per Handy: »Jetzt kommt es wieder …«, sagt Herr Röse mit gepresster Stimme und ich muss mehrfach nachfragen, was denn da immer wieder kommt, bis ich verstehe, welch körperliche und psychische Höllenqualen der Mann gerade aussteht.
    Unterbrochen von heftigem Keuchen und längeren Pausen, presst er mühsam seinen Hilferuf heraus: »Mein Defibrillator ist defekt. Er löst alle paar Minuten aus. Ich glaube, ich schaffe das nicht mehr lange.«
    Ganz klar. Stellen Sie sich mal vor, Ihr Herz rast plötzlich aus unerklärlichen Gründen mit einer Wahnsinnsfrequenz von bis zu 300 Schlägen pro Minute los, pumpt kaum noch Blut. Sie schnappen nach Luft, kämpfen mit Erstickungsnöten und absoluter Todesangst. Und dann kommt er, der Stromschock: ein starker, schmerzhafter Schlag in der Brust, gefolgt von kurzer Bewusstlosigkeit. Eine knallharte Vollbremsung des Herzens mit anschließendem Neustart – hoffentlich. Mit dem im Ernstfall lebensrettenden Effekt, dass das Herz wieder zur normalen Pumpleistung zurückfindet. Die meisten Herzpatienten mit einem eingebauten Defi erleben diesen Notfall so gut wie nie. Es sei denn, der Defi muss wegen einer Rhythmusstörung auslösen oder er ist – in äußerst seltenen Fällen – defekt.
    Mein Patient hier wird scheinbar grundlos, ohne das gefürchtete Kammerflimmern, alle paar Minuten von solch einem Stromstoß erfasst.
    »Wo sind Sie, Herr Röse? Nennen Sie mir Ihre Adresse!«
    »Tengelmann-Parkplatz. Dachauer Straße«, quetscht er mühsam heraus.
    »Hausnummer?«
    »Weiß nicht …« Keuchen. »Jetzt kommt es wieder …!«
    Die Dachauer Straße ist mit 11,2 Kilometern und über 700 Hausnummern die längste Straße Münchens. Sie durchquert fünf Stadtbezirke und beherbergt mehrere Tengelmann-Märkte. Passanten, die helfen könnten, sind anscheinend nicht in Sicht. Die Handyortung verläuft negativ. Jetzt bekomme auch ich langsam Herzrasen.
    Und ich hebe mal wieder die Hand – das Alarmzeichen für die Kollegen. In solchen Fällen hilft nur noch eines: Wir alarmieren die Polizeieinsatzzentrale mit der Bitte, uns mit den verfügbaren Streifen zu unterstützen. Außerdem rücken zwei Rettungswagenbesatzungen und zwei Notärzte aus, die getrennt voneinander die Dachauer Straße aus zwei Richtungen anfahren.
    »Herr Röse, hören Sie Martinshörner?«
    »Ja. Ganz weit weg.«
    Na bitte! Ich warte noch einen Moment.
    »Jetzt näher?«
    »Ja.«
    »Noch näher?«
    Keuchen. »Oh Gott, jetzt kommt es wieder …« Himmel noch mal, nicht jetzt.
    Über sein Handy höre ich jetzt selbst die näher kommenden Signale eines Rettungswagens. Der Kollege am Funkplatz neben mir reagiert sofort, weist den Rettungswagen und den folgenden Notarzt ein. Sie sind in unmittelbarer Nähe. Gleich müssten sie bei ihm sein. Und dann höre ich auf einmal das Handy auf den Asphalt fallen. Verdammt noch mal. Der wird mir doch nicht gerade jetzt hier einfach wegsterben? Ich brülle los: »Herr Röse! HERR RÖSE! Reden Sie mit mir! Hallo …???«
    Ich höre ihn keuchen, dann ganz nah das Geräusch eines scharf bremsenden Fahrzeugs. Und schließlich meldet sich zu meiner grenzenlosen Erleichterung der Kollege von der Rettungswagenbesatzung.
    »In Ordnung, Kollege. Wir haben ihn gefunden. Allerdings ist er nicht mehr ansprechbar.«
    Das war knapp. Erst jetzt realisiere ich, dass mir das Hemd am Rücken klebt. Ich lasse mich in meinen Stuhl zurückfallen, schnaufe tief durch und sehe, dass den Kollegen um mich herum auch gerade ein Stein vom Herzen gefallen ist. Wir melden Herrn Röse nun in einer nahe gelegenen Spezialklinik an. Wie sich herausstellt, ist er dort bereits als Herzpatient wohlbekannt.
    Tage später habe ich dann entgegen meiner Gewohnheit in der Klinik angerufen. Mich erwartete eine niederschmetternde Nachricht. Herr Röse hatte die Klinik zwar noch lebend erreicht, war aber am selben Tag verstorben.
    Herr Röse ist übrigens nicht an dem vermeintlichen Defekt seines Defibrillators gestorben. Das Gerät war nämlich völlig in Ordnung gewesen. Er starb an dem krankhaft veränderten
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