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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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Störungen, die in den Diagnosehandbüchern anhand von Dauer, Anzahl und Schweregrad der Symptome klassifiziert sind. Bei quantitativen Bestimmungen ist das Willkürmoment mit Händen zu greifen: Warum müssen für die Depression ( MDD ) nach DSM-IV fünf von neun Kriterien erfüllt sein und nicht vier oder sechs? Die mindestens fünf Symptome müssen »fast täglich« bestanden und »mindestens zwei Wochen« angedauert haben. Zusätzlich werden sechs Schweregrade der Depression unterschieden. All dies sind konventionelle quantitative Festsetzungen, die man auch anders hätte vornehmen können.
    Vom Problem der fließenden Übergänge zwischen »normal« und »psychisch gestört« sind nun alle gleichermaßen betroffen: diejenigen, die für eine Erweiterung des DSM -Katalogs eintreten, und deren Kritiker. Die einen möchten die Zahl der falsch negativen Diagnosen verringern, die anderen die der falsch positiven. Dabei leugnet niemand, dass es klare Fälle gibt. Die Herausforderung ist vielmehr, bei den unklaren Fällen im Grenzbereich zur Normalität den schwierigen Mittelweg zwischen Über- und Unterdiagnose zu finden. Wenn Frances nun zugibt, dass weder die Inflationstreiber noch die Verteidiger der Normalität definieren können, was als »psychische Störung« und was als »normal« zählt, woher weiß er dann, dass eine Grenze, die niemand angeben kann, zur Inflationsseite hin überschritten ist?
    Die Antwort lautet, dass Frances’ Kritik an der Diagnoseinflation sich nicht auf die notorische Vagheit diagnostischer Kategorien stützt. Im Theoretischen herrscht vielmehr ein Patt zwischen Inflationisten und Deflationisten. Frances’ Einschätzung, dass bis in die Siebzigerjahre zu zurückhaltend diagnostiziert worden sei, das Pendel aber mittlerweile weit zur anderen Seite hin ausgeschlagen sei, stützt sich auf andere Daten: auf Statistiken über den absurd steilen Anstieg neu aufgenommener Diagnosen, auf seine langjährigen Erfahrungen als klinischer Psychiater und Psychotherapeut, die in den Fallgeschichten des Schlusskapitels verarbeitet sind, auf historische und internationale Vergleiche sowie auf anthropologische Annahmen über die Selbstheilungskräfte und die Widerstandsfähigkeit (»Resilienz«) der menschlichen Natur, die unseren Vorfahren das Überleben sicherte.
    Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsethos
    Allen Frances’ vielleicht zentrales Argument ist aber kein psychiatrisches, sondern ein politisches. Er argumentiert, dass die Beurteilung von Grenzfällen nicht in einem Vakuum stattfinde, da die Hersteller von Psychopharmaka ein Interesse daran haben, »die Zielgruppen durch kreatives Marketing zu erweitern, um den wahrscheinlich Gesunden einzureden, sie seien zumindest geringfügig erkrankt« (S.   58). Das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie bestehe darin, Unklarheiten und Interpretationsspielräume auszubeuten, um die unscharfe Grenze zwischen Normalität und Behandlungsbedürftigkeit möglichst weit zu ihren Gunsten zu verschieben.
    Die Frage ist, ob die psychiatrische Wissenschaft überhaupt in der Lage ist, dieser Tendenz mit eigenen Mitteln entgegenzutreten. Frances tritt in diesem Buch in mindestens drei Rollen auf: als Wissenschaftler, als praktizierender Arzt und als Homo politicus . Der erhitzten Debatte wäre gedient, wenn man diesen Rollen und den möglichen Konflikten zwischen ihnen größere Aufmerksamkeit schenkte. Das wissenschaftliche Ethos eines Experten, der verantwortlich an der »Psychiaterbibel« DSM mitarbeitet, fällt nicht automatisch mit dem ärztlichen Ethos des klinischen Psychiaters zusammen, der zuerst um das Wohl seiner Patienten besorgt ist, und erst recht nicht mit den gesundheitspolitischen Interessen eines engagierten Staatsbürgers.
    Ein gutes Beispiel für den möglichen Konflikt des wissenschaftlichen mit dem ärztlichen Ethos ist der Umgang mit der indikationsüberschreitenden Anwendung von Psychopharmaka. Streng genommen muss und darf einen Wissenschaftler bei der Abfassung des DSM nicht interessieren, ob und inwiefern die neu aufgenommenen Diagnosen von interessierter Seite missbraucht werden können. Er kann mit seinen Mitteln ohnehin nicht verhindern, dass gesetzeswidrig für den »Off-label«-Gebrauch geworben wird und dass Gesunden Medikamente verschrieben werden. Er kann aber den Missbrauch möglichst erschweren, und genau das sollte er nach Frances tun. Als Arzt und Staatsbürger hat Frances ein großes Interesse an den klinischen, sozialen und
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