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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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öffnen wollte. Pointiert wurde seinerzeit behauptet, dass die vermeintlich psychisch Kranken, insbesondere die Schizophrenen, die einzigen Gesunden in einer kranken Gesellschaft seien. Frances ist dagegen ein Anhänger der evidenzbasierten Medizin. In der besten aller Welten gäbe es sogar verlässliche biologische Tests für psychische Krankheiten und für deren Früherkennung. Dass bisher keine verfügbar sind, liege an der übergroßen Komplexität der menschlichen Psyche: Sie sei schwieriger zu erforschen als alles andere, mit dem man es in der Medizin zu tun hat. Gleichwohl setzt er auf den Fortschritt der Wissenschaft, der sich aber im geduldigen Dreischritt von Beschreibung, Klassifikation und Erklärung vollziehe. Die Psychiatrie brauche den langsamen Fortschritt der Normalwissenschaft, nicht die Ausrufung von Paradigmenwechseln.
    – Wie sehr Frances das Schicksal seines Faches am Herzen liegt, zeigt sein souveräner Schnelldurchgang durch die Psychiatriegeschichte im zweiten Kapitel – mit vielen Helden und Schurken, mit einigen lustvoll vorgetragenen Vereinfachungen. Zu den Helden gehören neben Hippokrates und Galen die arabische Tradition und die europäische Aufklärung, zu den Schurken die Philosophen und Theologen des christlichen Mittelalters. Frances vermerkt mit grimmigem Sarkasmus, dass das ideologische Erklärungsmuster der Besessenheit durch den Teufel überaus erklärungskräftig war – und den psychisch Kranken mehrere dunkle Jahrhunderte bescherte. Der Koran wusste es besser, denn er vertrat eine säkulare, aufgeklärte Sicht von psychischer Krankheit.
    – So ist Frances’ Ziel am Ende ein konstruktives. Er möchte mit der Normalität im selben Zug die Psychiatrie retten: Die Psychiatrie solle sich auf die Grenzen ihrer Kompetenz beschränken, bei der Überarbeitung des Diagnosekatalogs maximal konservativ und evidenzbasiert vorgehen, sich des hippokratischen Grundsatzes Primum non nocere erinnern und Distanz zur Pharmaindustrie wahren. Im siebten Kapitel entwirft Frances eine wissenschaftspolitische Agenda, die unter anderem den Vorschlag umfasst, die Verantwortung für das DSM der American Psychiatric Association zu entziehen und sie in die Hände eines unabhängigen Gremiums zu legen, das keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt. 1
    USA und Deutschland
    Frances hat sein Buch mit Blick auf die Vereinigten Staaten geschrieben. Das amerikanische Gesundheitssystem, das pro Kopf doppelt so viel Geld wie der Durchschnitt der anderen Industrieländer verbraucht, untersteht anderen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen als das deutsche. Die für die Diagnoseinflation wichtigste Besonderheit ist wohl diese: Die USA sind neben Neuseeland das einzige Land der Erde, in dem den Pharmaherstellern die Direktwerbung beim Verbraucher für rezeptpflichtige Arzneimittel erlaubt ist. Seit 1997 ist sogar die Fernsehwerbung freigegeben, sodass auch Bevölkerungsgruppen erreicht werden, die keine Printmedien nutzen. In den ersten drei Jahren nach der Freigabe stiegen die Umsätze für Psychopharmaka um das Zweieinhalbfache. Einer Studie aus dem Jahre 2006 zufolge führte jeder in die Werbung investierte Dollar zu einem zusätzlichen Umsatz von 2,20   Dollar. So ist es ökonomisch nachvollziehbar, dass die Werbeetats der Pharmaindustrie doppelt so hoch wie ihre Forschungsetats sind. Der effizienteste Weg, den Absatz zu steigern, ist die Ausweitung der Gruppe der Medikamentenverbraucher. »Die Hauptader des Psychopharmakamarktes«, so Frances, »bilden die besorgten Gesunden.« Der zweite Hauptadressat des Marketings sind die Hausärzte, also Mediziner ohne besondere psychiatrische Ausbildung, die in den USA 80   Prozent aller Psychopharmaka verschreiben.
    Dabei ist den Unternehmen die Werbung für den »Off-label«-Gebrauch, also für eine zulassungsüberschreitende Anwendung, auch in den USA ausdrücklich verboten. Die großen Pharmahersteller nehmen aber immer wieder hohe Bußgelder in Kauf, zum Teil in Milliardenhöhe, um die Grenzen dieser gesetzlichen Regelung auszutesten (siehe die lange Liste auf S.   150   –   152). Offenbar lohnt es sich.
    Frances beschreibt eindrücklich, wie durch die Verbraucherwerbung für Psychopharmaka eine fatale Spirale sich wechselseitig verstärkender Trends in Gang gesetzt wird. Viele psychische Störungen sind schon aus psychiatrischer Sicht schlecht zur Normalität hin abzugrenzen. Für medizinische Laien ist es noch schwieriger. Im DSM
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