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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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schwierig und ein übergreifender, auf biologische Tatsachen gestützter Konsens nicht in Sicht, doch faktisch werden folgenreiche Abgrenzungsentscheidungen ständig getroffen, politisch implementiert und rechtlich kodifiziert.
    Die Unterscheidung zwischen »gesund« und »krank« ist nicht deshalb so bedeutsam, weil sie in der Wissenschaft unentbehrlich wäre, sondern weil die Gesellschaft so viele Entscheidungen von großer Tragweite daran geknüpft hat. Wo die Grenze jeweils gezogen wird, hat erhebliche gesellschaftliche und rechtliche Konsequenzen: Wann kann ein Arbeitnehmer sich arbeitsunfähig schreiben lassen? In welchen Fällen zahlt die Krankenversicherung? Wer kann eine Lebensversicherung abschließen? Wem wird die Verbeamtung verweigert? Welche psychischen Beeinträchtigungen machen einen Straftäter schuldunfähig? Wer kann ohne seine Zustimmung in die Psychiatrie eingewiesen werden? Unser gesamter gesellschaftlicher Umgang mit einem Menschen ändert sich, sobald wir ihn als krank ansehen. Auch unsere moralischen Bewertungen wandeln sich grundlegend, wenn wir den Konsum einer Droge als Sucht oder die Scheu vor Sozialkontakten als eine Phobie einstufen, also als pathologisches Verhalten.
    Ein drastisches Beispiel für die Konsequenzen der Grenzziehung im Kontinuum zwischen »normal« und »psychisch krank« ist der Umgang einiger amerikanischer Bundesstaaten mit der Hinrichtung von geistig behinderten Straftätern. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten entschied im Jahre 2002, dass die Verhängung der Todesstrafe gegen geistig behinderte Menschen gegen die Verfassung verstößt, überließ es aber den einzelnen Bundesstaaten, »geistige Behinderung« zu definieren. Einige Staaten stufen nun einen Täter genau dann als geistig behindert ein, wenn er einen Intelligenzquotienten von weniger als 70 besitzt. Hier wird eine wissenschaftlich höchst fragwürdige Grenzziehung buchstäblich zu einer Frage von Leben und Tod. Die Konsequenzen dieser Regelung für den erbitterten Streit in solchen Verfahren vor amerikanischen Gerichten sind jedem Zeitungsleser vertraut.
    Ein vergleichbares europäisches Beispiel ist die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung von rückfallgefährdeten Gewalt- und Sexualstraftätern: Nach Verbüßen ihrer Strafe dürfen Täter nur dann weiterhin in geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden, wenn ihnen eine psychische Krankheit bescheinigt wird. Eine noch so große Gefahr für die Allgemeinheit genügt nicht, weil dies nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2009 der Menschenrechtskonvention widerspräche. Forensische Psychiater werden durch diese Rechtsprechung unter einen beträchtlichen Druck gesetzt, ihre Diagnosen und Prognosen nicht allein auf medizinischen Sachverstand zu stützen. 3 Wie sollen sie einen Täter beurteilen, den sie für stark rückfallgefährdet halten, ohne dass er psychisch krank wäre? Wenn der forensische Psychiater aufgrund einer nicht medizinisch begründbaren Diagnose die Unterbringung empfiehlt, so lässt er sich missbrauchen, um der Justiz die Abwägung zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und den Menschenrechten des Täters zu ersparen. Das Recht hat für diese Abwägung keine Instrumente und muss ihre Notwendigkeit deshalb leugnen. Aber darf man diesen Konflikt auf dem Rücken der Psychiatrie austragen?
    Die Beispiele zeigen, dass die Unterscheidung zwischen »gesund« und »psychisch krank« trotz ihrer wissenschaftlichen Fragwürdigkeit in vielen Fällen folgenschwer ist. Die Medizin ähnelt dem Recht insofern, als medizinische Diagnosen und richterliche Entscheidungen, so schwierig sie oft zu treffen sind, fortan Wirkungen entfalten, die für diese Schwierigkeiten unsensibel sind. Mögen die Grenzen des zu beurteilenden Sachverhalts noch so fließend gewesen sein, die Folgen unterliegen einer harten Entweder-oder-Logik. Was im Recht allerdings in der Natur der Sache liegt – entweder Verurteilung oder Freispruch, tertium non datur −, ist in der Medizin allenfalls ein gesundheitspolitischer Systemzwang: Ärzte können gegenüber den Krankenkassen nur Leistungen abrechnen, wenn sie auch eine Diagnose gestellt haben.
    Bei vielen Erkrankungen gibt es durchaus ein Mehr oder Weniger und auch ein fein abgestuftes Arsenal von therapeutischen Möglichkeiten. Dass es um Grenzziehungen in einem Kontinuum geht, zeigen insbesondere die vielen psychischen
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