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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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Scheiterhaufen verbrannt werden müssten. Es gelang ihm, die Mehrheit der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass seelische Krankheiten völlig natürliche Ursachen haben, nicht anders als die Krankheiten des Körpers. Und er entwickelte ein neues Modell der »Irrenanstalt«, in der man sich ausschließlich mit den Bedürfnissen der Kranken befasste und sie respektvoll in angenehmer und zuträglicher Umgebung behandelte. Bald entstanden überall in Europa und in den USA »Nervenheilanstalten« nach seinem Konzept.
    Pinel brachte seinen Patienten Zuneigung und Zuwendung entgegen und behandelte sie einfach als Menschen. Vor die Wahl gestellt, als Leibarzt Napoleons zu dienen oder bei seinen Patienten zu bleiben, entschied er sich gegen den Kaiser. Jean-Baptiste Pussin, Pinels Klinikverwalter, Berater und Lehrer, war selbst ehemaliger Anstaltsinsasse, aus dem ein brillanter Kliniker und Therapeut wurde. Gemeinsam entwickelten sie die sogenannte »moralische« (oder »psychologische«) Behandlung psychisch Kranker; sie bestand aus dem, was wir heute »Psychoedukation« nennen: aus kognitiver Therapie, Überprüfung der Realität, Arbeit, Bewegung, therapeutischen Aktivitäten, Unterstützung und Ermutigung; dies alles in einer Atmosphäre aus Freundlichkeit, Zurückhaltung und Humor. Pinel interessierte sich sehr für die Lebensgeschichte jedes Patienten, für die besonderen Hoffnungen, Ängste, Beweggründe und Umstände, die uns prägen: Er wollte wissen, in welcher Weise sich das Lebensschicksal eines Patienten und die Ausprägung seiner Krankheit gegenseitig beeinflussen.
    Pinel war überzeugt, dass die Krankheiten seiner Patienten durch eine Kombination aus Veranlagung, physiologischem Gehirntrauma, psychologischem und sozialem Stress und der bis dahin vonseiten ihrer Mitmenschen erlebten abscheulichen Behandlung verursacht würden. Er wollte ihnen keine Kur aufzwingen, sondern die natürliche Heilung fördern: kein Aderlass, kein Schröpfen, kein Klistier und keinen Drehstuhl mehr. Er machte sich keine übertriebenen Hoffnungen hinsichtlich dessen, was er für sie tun konnte, sondern vertraute auf die Widerstandskraft und die Selbstheilung seiner Patienten. Körperliche Fixierung durch Zwangsjacken und medikamentöse Ruhigstellung durch Opium blieben den Tobsüchtigen vorbehalten, die auf nichts anderes reagierten.
    Pinel war nicht nur ein großer Menschenfreund, sondern auch ein guter Wissenschaftler. Mit einer Kombination aus der Syndrombeobachtung Sydenhams und der Klassifizierung nach Linné ordnete er die Symptome psychischer Krankheiten zu Kategorien, mit denen sich arbeiten ließ. Seine psychiatrischen Diagnosen fußten auf der naturwissenschaftlichen Methode minutiöser Beobachtung. Er verbrachte viel Zeit mit seinen Patienten und befragte sie ausgiebig, um so viel Information wie möglich zu gewinnen und daraus Krankheitsverläufe zu zeichnen und Symptomhäufungen zu erkennen. Die Kategorien, die er aufstellte, unterscheiden sich in mancher Hinsicht von unseren heutigen, aber unsere Klassifizierungsmethoden sind noch immer dieselben. Wie in allem war Pinel auch hier bescheiden und präsentierte seine Vorschläge mit dem Vorbehalt »vorläufig«.
    Mit Pinel beginnt die moderne Psychiatrie und endet das dunkle Zeitalter. Die Leistungen und Errungenschaften der Psychiatrie im 19.   Jahrhundert machten die Klassifizierung psychischer Störungen sowohl in menschlicher wie in intellektueller Hinsicht zu einem spannenden Unterfangen. Abgesehen vom naheliegenden klinischen Zweck herrschte die allgemeine Vorstellung, dass die klare Beschreibung und Abgrenzung der verschiedenen psychischen Störungen voneinander zu besseren Theorien über ihre Entstehung führen. Die Ärzte, die klassifizierten und systematisierten, waren nicht nur Kliniker, sondern auch beobachtende Wissenschaftler, die für die psychiatrische Diagnostik eine vergleichbare Arbeit leisteten, wie sie Linné mit den Pflanzen und Tieren bewerkstelligt hatte. Wären die Beschreibungen nur gut genug, so käme vielleicht eines Tages ein Darwin der Psychiatrie daher und fügte alle Daten zu einer großen Theorie zusammen. 16
    Pinel löste eine erstaunliche Welle kreativer Klassifizierung aus, und während der weiteren Jahrzehnte des 19.   Jahrhunderts wurden mehrere Klassifizierungssysteme für psychiatrische Störungen vorgeschlagen. Die ersten Systematiken kamen aus Frankreich, doch der wissenschaftliche Schwerpunkt verschob sich allmählich nach
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