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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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mathematische Auswertung der gewonnenen Daten durch Johannes Kepler. Und schließlich, als großer Triumph menschlicher Erkenntnis, erklärte Isaac Newton – basierend auf Axiomen Galileo Galileis – nicht nur die Bewegungen der Sterne und Planeten, sondern auch die Kraft, die unsere Füße auf dem Boden hält und dafür sorgt, dass eine Kanonenkugel ihr Ziel trifft. Newtons Synthese forderte die Wissenschaften auf, die Grundwahrheiten hinter allen geistigen Betätigungen zu entdecken. Eine fieberhafte Suche nach neuem Wissen und besseren Klassifizierungssystemen brach an. Die Aufklärung wurde auch die Zeit der Taxonomie, und der Vater aller Klassifizierer war der Naturforscher Carl Linnæus, oder Carl von Linné, wie er nach seiner Nobilitierung hieß.
    Unter den vielen berückenden Genies der Aufklärung ist Linné mein persönlicher Favorit. Er hatte Medizin studiert und war leidenschaftlicher Botaniker, was damals eine unumgängliche Kombination war. Seit der Zeit der Schamanen stammen die meisten wirksamen Arzneien von Pflanzen, und das Herzstück jeder medizinischen Fakultät war ihr Kräutergarten. Linné reiste nie durch die Welt, um eigenhändig Proben außerhalb von Nordeuropa zu sammeln, aber das musste er auch nicht, denn die Welt kam zu ihm. Seine Studenten, neunzehn an der Zahl, wurden bald seine »Apostel« und durchreisten als abenteuerlustige Schiffsärzte oder Naturforscher Nord- und Südamerika, Afrika, Japan und die asiatischen Tropen, um Pflanzen für ihn zu sammeln. Eine weltweite Forschungsreisewut war ausgebrochen. Natürlich waren wirtschaftliche und militärische Macht die eigentlichen Beweggründe der Expeditionen, aber auch geologische und biologische Erkenntnisse standen weit oben auf der Liste der Anliegen. Kriegsschiffe wurden gleichzeitig als wissenschaftliche Laboratorien eingesetzt, und die besten Sammlungen, die besten Sammler waren häufig auf See unterwegs. Zwei »Apostel« Linnés begleiteten James Cook auf Reisen rund um die Welt, andere starben im Einsatz fern der Heimat. Aber das gesamte Unterfangen erbrachte eine Fülle von Wissen über die Vielfalt des Lebens, und Linné saß im Zentrum dieses weltumspannenden Netzes von Entdeckern. Er hatte sich das Ziel gesetzt, für die Biologie zu leisten, was Brahe und Kepler für die Astronomie getan hatten: Die unsortierten Daten des Lebens in all seiner fruchtbaren Komplexität mussten zu Kategorien geordnet werden, mit denen man arbeiten konnte. Könnten wir, so seine Überlegung, eine kristallklare Klassifizierung aller Pflanzen und Tiere der Welt entwickeln, so kämen wir damit vielleicht hinter Gottes Absichten. Wenn die Schwerkraft eine einfache Erklärung für die augenscheinliche Komplexität der Planetenbewegungen ist, gibt es vielleicht auch eine einfache Erklärung für die Vielfalt des Lebens.
    Linné entwickelte eine stringente Systematik, die drei Jahrhunderte überdauert hat und in der sich sogar die Revolution der modernen Genetik unterbringen lässt. In Details irrte er gelegentlich, aber das spielt keine Rolle – es war die Methode als solche, die der Wissenschaft das unschätzbare Werkzeug zur Verfügung stellte. 7700 Pflanzen und 4400 Tiere wurden anhand der Ähnlichkeiten innerhalb einer mehrstufigen, geschachtelten Hierarchie in die jeweiligen Kategorien Reich, Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art eingeordnet. Die Systematik erwies sich als brauchbar. Linné brachte Ordnung ins scheinbar chaotische Universum der Biologie. In einer dramatischen Abkehr von der früheren religiös begründeten Einzigartigkeit fand auch der Mensch seinen Platz in der Systematik, direkt neben den Affen und den Menschenaffen – ein Tiefschlag für unsere Würde, aber ein großer Schritt auf dem Weg zur Evolutionstheorie. Linnés sorgfältige Sortierung beschriebener Komplexität war die nötige Voraussetzung für Darwins vereinfachende Erklärung, wie sich das Leben in seine unzähligen Nischen entwickelt hat. 14
    Dies war die zweite große Demonstration des dreistufigen Prozesses der beobachtenden Wissenschaft: Was sich in der Astronomie bewährt hatte, bewährte sich auch in der Biologie. Man brauchte erstens eine akkurate und sorgfältige Beschreibung der natürlichen Welt, zweitens ein kluges Klassifikationssystem, um die augenscheinliche Komplexität auf brauchbare Muster aufgrund der beobachteten Ähnlichkeiten zu reduzieren; und daraus ergab sich, drittens, der Lohn der Mühe, eine so einfache und einleuchtende
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