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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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Wissenserwerbs. Sydenham war der Inbegriff der praktischen, vernünftigen Medizin.
    Sein besonderes Verdienst war es, dass er die Nosologie, die Lehre von der Erscheinungsform einer Krankheit, wieder in den Mittelpunkt ärztlicher Aufmerksamkeit rückte. Er war ein Meister der Beschreibung von Syndromen und Krankheiten. Er beobachtete, analysierte, verglich. Immer wieder identifizierte er gruppenweise auftretende Begleitsymptome, studierte ihren Verlauf, wagte Prognosen. In der Abgrenzung verschiedener Krankheiten gegeneinander waren sie für ihn wie Pflanzen oder Tiere – man musste nur wissen, wie man hinschaut, und man musste nur lang genug hinschauen: Am Ende gab sich ein Muster zu erkennen, das einem die Ursache offenbarte und eine Behandlung aufzeigte. »Die Natur verfährt in der Hervorbringung von Krankheit so gleichmäßig und beständig, dass die gleiche Krankheit bei verschiedenen Menschen mit zum größten Teil gleichen Symptomen auftritt, sodass sich dieselben Phänomene, die in der Krankheit eines Sokrates auftreten, auch bei einem Dummkopf beobachten lassen.« 12
    Unter den zahlreichen Krankheiten, die Sydenham studierte und beschrieb, waren die Hysterie und die Hypochondrie. Anders als die leichtgläubigeren Ärzte Charcot und Freud zweihundert Jahre nach ihm, erkannte Sydenham, dass sich die körperlichen Symptome eines seelischen Traumas durch Behandlung häufig verschlechterten, während es oft viel hilfreicher war, extreme Therapien abzubrechen und stattdessen psychologische Verfahren anzuwenden. »Bisweilen«, soll er gesagt haben, »erwies ich der Gesundheit meines Patienten und meinem eigenem Ansehen den besten Dienst, indem ich gar nichts tat.«
    Das von Seuchen heimgesuchte England im 17.   Jahrhundert war ein ideales Labor, um die Ausbreitung von Fieberkrankheiten zu studieren. Sydenham war ein Pionier der Epidemiologie, und auch hier folgte er dem Vorbild des Hippokrates, der dieses Gebiet erschlossen hatte: Die äußeren Ursachen von Krankheit und Ansteckung zu erkennen und zu verstehen ist Grundlage einer Vorsorgemedizin, die weitaus wirksamer ist als die Behandlung der Folgen.
    Zu Sydenhams großen Verdiensten zählt die Enträtselung der Chorea – unwillkürlicher, plötzlich ausfahrender Bewegungen der Extremitäten, des Gesichts und des Rumpfs –, denn er erkannte, dass eine Chorea als Zweiterkrankung nach abgeklungenen Halsentzündungen auftreten kann und ferner eine mögliche Erscheinungsform von rheumatischem Fieber ist – dass also Infektionen die Ursache der ruckartigen Bewegungen sind, nicht Dämonen. Darüber hinaus leistete er drei revolutionäre, nachhaltige Beiträge zur medikamentösen Behandlung von Krankheiten: Mittels eines Auszugs aus einer peruanischen Baumrinde, die, wie sich zeigte, Chinin enthielt, behandelte er die Malaria; er setzte Eisen gegen Anämie ein; und er stellte eine flüssige Darreichungsform von Opium her, einem von ihm sehr bewunderten Arzneimittel. Allerdings war er generell zurückhaltend bei der Verschreibung und hegte großes Misstrauen gegenüber dem Eifer vieler seiner Kollegen, die mit Begeisterung heroische, aber schädliche Behandlungen verordneten. 13
    Carl von Linné, der Systematisierer
    Im 18.   Jahrhundert hätte man wohl gern gelebt! Das Zeitalter der Aufklärung, wie es sich nannte, war jene Zäsur in der Menschheitsgeschichte, in der man mit Fug und Recht annehmen durfte, dass die stetige Vermehrung menschlichen Wissens am Ende zu Glück und Zufriedenheit führt. Aber das Jahrhundert endete schlecht und zerschlug viele Hoffnungen, die seither nicht wiederbelebt werden konnten. Die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege ließen die Blase der Unschuld platzen, und wie die spätere Erfahrung gezeigt hat, kann menschliches Wissen, wenn es nicht klug und umsichtig angewandt wird, Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes hervorbringen.
    Aber ein intelligenter Mensch, der in diesem 18.   Jahrhundert (das ja lang war) lebte, konnte noch immer an die potenzielle Perfektionierbarkeit des Menschen und der Welt glauben. Es war nur eine Frage der Datenerhebung und der richtigen Systematik. Die Astronomie lieferte ein verführerisch einfaches Bild einer Wissenschaft, die alle Rätsel der Natur löste. Es begann im 15./16.   Jahrhundert mit der kopernikanischen Vorstellung eines Universums, in dessen Mittelpunkt nicht mehr die Erde, sondern die Sonne stand. Dann folgten akribische Beobachtungen von Tycho Brahe und die
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