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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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Erklärung, dass jeder sich fragt, weshalb er nicht selbst auf die Idee kam. Dabei ist es unmöglich, die richtigen Antworten zu geben, solange nicht die Fragen richtig gestellt werden. Jede gute Klassifizierung ruft laut aus: »Warum ist die Natur so?«, und dahinter steht die Hoffnung, dass jemand in der beschreibenden Strukturierung kausale Zusammenhänge entdeckt.
    Ein Jahrhundert später setzte Dmitri Iwanowitsch Mendelejew mit seinem periodischen System der Elemente den gleichen Mechanismus in Gang, und die Fragen, die seine Systematik aufwarf, führten überraschend schnell von den unterschiedlichen Strukturen der Atomkerne zu einem überzeugenden, vereinfachenden kausalen Modell. Eine der großen Enttäuschungen der modernen Medizin und Psychiatrie ist, dass es unseren Klassifikationssystemen nicht gelungen ist, ähnlich klare Erklärungsmodelle hervorzubringen. Der Körper und vor allem das Gehirn sind von einer Eigentümlichkeit und Komplexität, die sich anscheinend auf ewig allen naheliegenden kausalen Antworten verschließen.
    Philippe Pinel, der Vater der Psychiatrie
    In der Psychiatrie hielten Renaissance und Aufklärung erst spät, zu Beginn des 19.   Jahrhunderts Einzug, was nicht daran liegt, dass diejenigen, die sich für menschliches Verhalten interessierten, dümmer gewesen wären als andere. Der Grund ist vielmehr, dass das Thema so kompliziert ist. Planeten verhalten sich wesentlich einfacher und in ihren Bewegungen gesetzmäßiger als das Gehirn bei Funktionsstörungen. Die allgemeinen Gesetze der Astronomie und Biologie sind viel leichter zu entdecken als die exakten Krankheitsmechanismen in der Psychiatrie. Die moderne Naturwissenschaft suchte sich für ihre anfänglichen Entdeckungen klugerweise solche Themen aus, die sich von vornherein zu großartiger Abstraktion anboten. Die Entdeckung der Schwerkraft und der Evolution waren geistige Meisterleistungen, aber verglichen mit dem Verständnis der Schizophrenie hängen diese Trauben doch recht tief.
    Unterdessen war die Unterbringung der sogenannten Geisteskranken immer unhaltbarer geworden. Industrielle Revolution, Bevölkerungswachstum und Verstädterung hatten die herkömmlichen Gepflogenheiten im Umgang mit Kranken zerschlagen, die bis dahin in erster Linie in die Zuständigkeit der Familie, des Dorfs, des Pfarrers gefallen waren. Der neue Druck, der auf den Arbeiterfamilien lastete, verringerte nicht nur – verständlicherweise – ihre Toleranz gegenüber gestörten und störenden Familienmitgliedern, sondern auch die Mittel und Möglichkeiten, sie zu unterhalten. Bequemer war es, sie in Anstalten abzuladen, die häufig weit entfernt lagen. Dort wurden die psychisch Kranken zusammen mit anderen Unliebsamen verwahrt – Verarmten, Kriminellen, Waisen und Geistesschwachen. Den häufig gewinnorientierten Armenhäusern war es natürlich kein Anliegen, Kranke zu heilen oder wissenschaftliche Forschung zu betreiben. In der Gesellschaft, in der sie sich befanden, galten auch die Irren als verdorben und ihre Symptome als das Ergebnis moralischer Defizite, die nicht von medizinischem Interesse waren. Einen psychiatrischen Berufsstand gab es nicht, so wenig wie klinische Untersuchungen, die zu einer Diagnose und Klassifizierung führen konnten. Die Irren waren keine vollwertigen Menschen, sondern so etwas wie Bestien, die gezähmt, ausgepeitscht, angekettet werden mussten; mitunter wurden sie auch gegen Entgelt öffentlich zur Schau gestellt. 15
    Der französische Arzt Philippe Pinel rettete die Patienten und schuf den Beruf des Psychiaters in der westlichen Welt. Unsere Disziplin hätte sich keinen besseren Vater, kein besseres Vorbild wünschen können. Humanist und Wissenschaftler zugleich, lehrte er uns, die Patienten, deren Probleme und Störungen wir studieren, als Menschen mit eigener Würde zu behandeln. Sein besonderes Verdienst war es, dass er die psychisch Kranken von ihren Ketten befreite. (In einem alten Gebäude auf dem Gelände der noch bestehenden psychiatrischen Abteilung des Pariser Krankenhauses Salpêtrière, das damals eine reine Nervenklinik war, sind noch heute die Spuren der in die Wand eingelassenen eisernen Fesseln zu sehen.) Aber Pinel machte ihnen ein noch größeres Geschenk: Er räumte mit dem mittelalterlichen Aberglauben auf, dass seelische Krankheit von einem in den Körper gefahrenen Dämon verursacht werde und die Opfer der Besessenheit gefürchtet, verleumdet, vernachlässigt, womöglich auf dem
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