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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter
Autoren: Kerstin Michelsen
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vorüber, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Blut. Das Loch. Messer, die Fell und Fleisch mühelos zertrennten. Es war ekelhaft und ich schüttelte unwillkürlich den Kopf, um den Anblick loszuwerden.
    Ich hatte kaum wahrgenommen, dass Sybille währenddessen die Scherben beseitigt und zwei neue Teller auf den Tisch gestellt hatte. Dann schenkte sie uns beiden den Tee ein, der viel zu lange gezogen hatte und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
    «Hey, nun sag mal, was ist los?»
    Ich hob hilflos die Schultern.
    Es war doch nur ein schlechter Traum gewesen , das sagte ich mir immer wieder. Zugleich spürte ich, dass es doch mehr gewesen war. Es war ein kaum wahrnehmbares Kribbeln, das meinen Körper durchzog.
    Eine Ahnung stieg in mir auf. Yasmine. Ganz ähnlich hatte es damals begonnen, nachdem ich in die neue Wohnung gezogen war. Nein, korrigierte ich mich, erst nach dem Unfall, da hatte es angefangen. Yasmines Botschaften, oder wie man das nennen wollte, die durch Träume und Visionen zu mir gelangt waren. Vielleicht konnte man das, was ich damals empfangen hatte, am ehesten als Schwingungen bezeichnen, verursacht durch eine Form von Energie, die noch im Raum hing, obwohl Yasmine zu dieser Zeit schon lange tot gewesen war.
    Von all edem konnte ich Bille nichts sagen, denn sie wusste nichts von meiner Gabe. Als all das damals passiert war, der Unfall und die Entdeckung meiner ungewöhnlichen Fähigkeit, da war Bille noch in Australien gewesen. Nach ihrer Rückkehr hatte ich gezögert, mich ihr anzuvertrauen. Angst hatte ich gehabt, sie würde mir nicht glauben – was ich ihr nicht hätte verdenken können - und dass dies dann für immer zwischen uns stehen würde. Und irgendwann war der Moment endgültig vorüber gewesen, da ich es ihr hätte sagen können. Das Leben war einfach weiter gegangen.
    Ausgerechnet jetzt war ich nicht in der Verfassung für lange Erklärungen . Also musste ich improvisieren beziehungsweise einfach bei der Wahrheit des schlechten Traumes bleiben. Zum Glück ließ Bille sich bereitwillig ablenken, als ich auf ihre bevorstehende Reise zu sprechen kam. Wir frühstückten und als Bille mich einige Stunden später verließ, hatte keine von uns den Vorfall mit den zerbrochenen Tellern noch einmal erwähnt.

 
ZWEI
     
    Zwei Tage später fiel mir wieder etwas aus der Hand. Ich stand auf der Leiter und streckte mich, um die Wände des zukünftigen Gästezimmers von den letzten Fetzen der geblümten Tapete zu befreien.
    Mit dem großen Spachtel kam ich zügig voran. Ich war beinahe fertig.
    Als Oliver und ich überlegt hatten, was aus diesem etwas verwinkelten Raum neben dem Badezimmer im Obergeschoss werden könnte, hatte er gemeint: «Ein schönes Gästezimmer, meinst du nicht?  Aber wir sollten für die Wände auf jeden Fall eine freundliche, warme Farbe nehmen. Vielleicht kommt ja nochmal ein sehr kleiner Besuch …»
    Ich hatte seine Bemerkung nicht kommentiert und war darüber hinweg gegangen, als hätte ich die Anspielung nicht verstanden. Aber ich hatte es nicht vergessen. Immer wieder war mir der Gedanke durch den Kopf gegangen. So auch in jenem Moment, während ich den Spachtel unter Tapetenreste schob und mit der anderen Hand die lose gewordenen Streifen abzog. Unter mir hatte sich ein Haufen geblümter Papierfetzen gebildet, wie Laub im Herbst.
    Warum sagte Oliver nicht direkt, wenn er sich ein Kind von mir wünschte? Tat er das überhaupt oder interpretierte ich zu viel in eine vielleicht achtlos hingeworfene Bemerkung? Nein, so war Oliver doch nicht, er würde nicht zum Scherz damit kokettieren, ob wir Eltern werden würden oder nicht. Also – ein Kind? Ich könnte ihn ja einfach fragen, doch etwas hielt mich zurück. Ich schätze, die Angst vor einer Zurückweisung war einfach zu groß. Was, wenn er doch Nein sagte? Und offen gesagt war ich mir selbst nicht einmal darüber im Klaren, was ich selbst wollte. Wie konnte ich ihm dann diese Frage stellen? Andererseits – konnte man nicht einfach darüber sprechen? Offenbar nicht, irgendetwas hielt mich noch zurück. Vielleicht sitzt mir einfach nur die Zeit im Nacken, dachte ich. Typisch. Im nächsten Jahr wurde ich vierzig. Die biologische Uhr tickte. Bildete ich mir deshalb nur ein, vielleicht ein Kind zu wollen? Oder wollte ich es wirklich? Der Gedanke daran, dass Oliver und ich Eltern werden könnten, war berauschend und beängstigend zugleich. Was würde ich für eine Mutter sein?
    Ich kletterte die Leiter hinunter,
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