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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter
Autoren: Kerstin Michelsen
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rückte sie einen halben Meter weiter und stieg wieder hinau f. Während ich weiter kratzte und zupfte, versuchte ich mir konkreter vorzustellen, wie das wäre, mit Oliver und mir und einem Kind. Aus irgendeinem Grund erschien vor meinem inneren Auge ein kleiner Junge, der über die Wiese hinter unserem Haus auf Oliver zulief. Ich stand am Rand und sah zu. Das Kind war blond, vielleicht zwei oder drei Jahre alt und es lachte. Ich lächelte vor mich hin und zupfte an der Tapete.
    Das Haus war tatsächlich ideal für Kinder, wir hatten viel Platz, alles, was man sich für eine glückliche Familie nur wünschen konnte. Der Junge in meiner Vorstellung lief immer noch auf Oliver zu, quer über das von Löwenzahn gelb getupfte Grün. Plötzlich wurde das Grün dunkel, fast schwarz. Ich ließ den Spachtel fallen und klammerte mich mit beiden Händen an der obersten Sprosse der Leiter fest. Immer noch sah ich das Kind laufen und den Mann, der nicht mehr Oliver war. Er hob einen Arm, als winkte er dem Kind zu, doch der Arm schwang nach vorn und traf den Kopf des Kindes. Es fiel einfach um. Dann sah ich, wie es sich auf alle Viere aufrichtete und auf den Mann zukrabbelte. Es legte seine kleinen Arme um die Stiefel des Mannes. Ich schluchzte auf und kletterte mit zitterigen Beinen von der Leiter. Mit letzter Kraft schaffte ich es hinüber ins Schlafzimmer und ließ mich mit meiner staubigen Arbeitskleidung auf das Bett fallen. Mir war schwindelig und übel geworden. Ich hatte das Gefühl, mich nicht mehr aufrecht halten zu können.
    Ich konnte mir diese Bilder nicht erklären. Wo kamen sie her, wer konnte es sein, der kleine Junge und der brutale Mann? Ich lag auf dem Bett und bemerkte, dass ich weinte. Das Kind! Ich schloss die Augen, doch die Bilder blieben. Mit einem Mal war ich entsetzlich müde. Ehe ich einschlief, stieg mir ein unangenehmer Geruch in die Nase. Modrig. Ich weiß noch, dass ich mir vornahm, nach der Quelle des Gestanks zu suchen. Gleich. Nur einen Moment ausruhen. Meine Arme und Beine waren bleischwer. Dann versank ich in der Schwärze.
    Kinderlachen. Es kommt aus dem Stall. Die Arbeit ist noch nicht getan. Er hat doch gesagt, erst die Arbeit. Der massige Körper wirft einen breiten Schatten. Die große Hand hält ein Messer. Die zweite Hand greift in weiches Fell. Kein Lachen mehr. Nur noch Tränen. Wer nicht hören will, kommt ins Loch. Papa, nein Papa, nicht …
    « Nora? Hey, Schatz, wach auf, ich habe dir einen Tee gemacht.»
    Mühsam tauchte ich aus de m Schlaf auf und erkannte, dass Oliver neben mir auf der Bettkante saß. Er lächelte. Ich war erleichtert, dass der Traum vorüber war. Doch etwas davon hing noch an mir wie ein schlechter Nachgeschmack. Gereizt war ich und auf unerklärliche Weise wütend. Ich hätte gern etwas zerschlagen. Ich richtete mich auf und schlang meine Arme um Olivers Nacken. Zur Sicherheit. Ich war mir nicht sicher, ob ich sonst nicht zugeschlagen hätte. Einfach so. Es war nicht schön, so wollte ich mich nicht fühlen. Als könnte ich meinen Empfindungen nur Luft machen, indem ich etwas zerstörte. Es war gut, dass Oliver da war und mich in die Wirklichkeit zurückholte. Wenn einer das konnte, dann er. Trotzdem fühlte es sich fremd an zwischen uns. Das ängstigte mich beinahe noch mehr als der Traum.
    « Na, Dreckspatz, bist du mitten in der Arbeit umgefallen?», murmelte er in mein Haar.
    « Ich konnte einfach nicht mehr, entschuldige. Das Bett müssen wir wohl neu beziehen.»
    « Ist doch egal, das bisschen Staub. Was ist denn passiert?»
    « Nichts ist passiert. Mir wurde nur plötzlich schwindelig, als ich auf der Leiter stand, und …»
    « Schwindelig? Jetzt bist du aber schwindelig. Hör mal, Nora, du musst mich ja nun auch nicht für blöd verkaufen. Seit ein paar Tagen läufst du hier herum wie ein Gespenst mit solchen Ringen unter den Augen.» Seine Hände deuteten etwa den Umriss eines Suppentellers an. «Und nachts wälzt du dich nur herum. Was ist denn los?»
    «Ich hab was gesehen.»
    «Was hast du gesehen?»
    «Na, du weißt schon …»
    Oliver ergriff meine Arme, löste sich von mir und lehnte sich zurück.
    « Können wir mal mit der Ratestunde aufhören? Hier, trink den Tee, und dann erzählst mir alles der Reihe nach.»
    Und das tat ich. Als ich fertig war, schwieg Oliver für einen kurzen Moment, dann fragte er: «Und was meinst du, was das war? Woher kommen diese Bilder?»
    Ich schüttelte den Kopf.
    «Woher soll ich das wissen? Es muss etwas mit
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