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Noch einmal leben

Noch einmal leben

Titel: Noch einmal leben
Autoren: Robert Silverberg
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Der Hinterkopf wies eine merkwürdige Ausbeulung auf.
    Mit der Linken nahm er Roditis und mit der Rechten Noyes an der Hand und erteilte ihnen beiden damit sowohl einen Segen als auch den Wunsch nach vielen Leben. Roditis fühlte sich wieder sicher. Er hatte kein Interesse, mit dem Nirwana abgespeist zu werden, solange Reinkarnationen erhältlich waren.
    „Kommen Sie mit in mein Büro“, schlug der Guru vor.
    Gräßliche tibetanische Schriftrollen bedeckten die Wände. Roditis fühlte sich von ihnen abgestoßen. In ihm blühte Anton Kozak vor Vergnügen auf, während Elio Walsh, der grobe Spießer, noch stärkeres Mißbehagen äußerte als Roditis. Ein Schreibtisch stand mitten im Raum. Auf ihm befand sich ein sehr weltlich wirkendes Telefon mit Sichtscheibe und Telex. Daneben lag ein kostspieliges Buch, ganz in Safranleder gebunden. Als er Roditis’ Interesse an dem Werk bemerkte, lächelte der Guru und reichte es ihm.
    „Die unbezahlbare Erstausgabe“, sagte der Lama. „Originalübersetzung des Bardos von Evans-Wentz aus dem Jahr 1927. Davon kann man nur noch sehr wenige Exemplare finden.“
    Roditis nahm das Buch vorsichtig entgegen. Der kühle Einband schien ihn sinnlich zu erregen. Er öffnete es behutsam, so als fürchtete er, daß einzelne Seiten sich selbständig machen und davonspringen könnten. Roditis blätterte durch den vertrauten Text: den enorm langen Teil der Vorworte, die endlose Inhaltsangabe. Er erreichte die erste Abteilung, das Chikhai Bardo:
     
    „HIERIN LIEGT VON ANGESICHT ZU ANGESICHT DER HINTERGRUND FÜR DAS MITTLERE STADIUM DER REALITÄT: DIE GROSSE ERLÖSUNG, DIE DIE OHREN ERREICHT, WÄHREND MAN IM ZUSTAND NACH DEM TOD VERWEILT, VON DER INHALTSSCHWEREN LEHRE DER EMANZIPATION VOM BEWUSSTSEIN DURCH MEDITATION, DIE SICH DEN FRIEDLIEBENDEN UND ZORNERFÜLLTEN GÖTTERN ZUWENDET.“
     
    Blanker Unsinn, wußte Roditis, und Elio Walsh plapperte ihm das harte Urteil nach, worüber Kozak leichte Empörung von sich gab. Auf einer anderen Bewußtseinsebene gab Roditis zu, daß es sich auf seine Weise zumindest um nützlichen blanken Unsinn handele. Wie ein Firlefanz von den eisbedeckten Höhen des Landes, wo die Yaks lebten, das Leben eines jeden Amerikaners von Grund auf umkrempeln konnte, war schon eine sehr komplexe Angelegenheit. Dennoch, es war so weit gekommen, und Roditis war flexibel genug – und wurde darin von seinen vielfältigen Persönlichkeiten unterstützt –, etwas zu akzeptieren und es im gleichen Moment abzulehnen.
    „Eine wunderbare Ausgabe“, sagte er.
    „Ein Geschenk von Paul Kaufmann“, antwortete der Guru. „Eine seiner zahlreichen Aufmerksamkeiten für unser Haus. Sein Ableben ist wirklich ein großes Unglück für uns.“
    „Glücklicherweise ist es nur ein vorübergehendes Unglück“, bemerkte Roditis. „Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Transplantation seines Bewußtseins jemandem zuerkannt wird.“
    „So viel ich weiß, wird es schon bald soweit sein.“
    „Oh?“ Roditis schoß verkrampft nach vorne. „Was wissen Sie darüber?“
    Der Guru zeigte sich verwirrt über Roditis’ heftiges Verlangen. „Warum, ich weiß auch nichts Offizielles. Aber mittlerweile ist er seit einigen Monaten tot. Die Trauerzeit seiner Familie ist auch vorüber. Sicherlich sind bis jetzt alle Anträge auf Kaufmanns Bewußtsein überprüft worden, und bald schon wird ein Zuspruch erfolgen. Ich vermute das zumindest – aber gesagt hat man mir noch nichts.“
    Roditis entspannte sich und bemerkte dabei einen kurzen Blick des Unbehagens von Noyes. Er wußte, daß er sich danebenbenommen hatte, als es eben aus ihm herausgeplatzt war. Verdammt nochmal, daß es zu diesem Ausrutscher kommen mußte. Noyes dagegen hatte bessere Manieren; aber Noyes war auch nicht scharf auf Paul Kaufmanns Bewußtsein. Manchmal erwies es sich als strategischer Vorteil, scheinbar zufällig einen Fingerzeig des Interesses erkennen zu geben. Sollte der Guru doch erfahren, was er wissen wollte. Was konnte es schon schaden?
    „Kaufmann war ein bedeutender Mann und ein fähiger Banker“, sagte Roditis. „Ich weiß nicht, welchem Aspekt ich mehr Bewunderung zollen soll.“
    „Für uns bildeten seine Fähigkeiten eine Einheit. Er ließ uns öfters Schenkungen zukommen und nahm manchmal an unseren Riten teil. Wollen wir auch beten?“
    Ein paar sandalenbeschuhte Mönche waren in das Zimmer geschlüpft. Roditis hörte sie leise ihr großes Mantra singen: „Om mani padme hum.“ Neben ihm fiel Noyes
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