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Noch einmal leben

Noch einmal leben

Titel: Noch einmal leben
Autoren: Robert Silverberg
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Heulsuse, merkst du das denn nicht? Wenn ich dich nicht so gern hätte, hätte ich dir schon lange die Freundschaft gekündigt. Jetzt mach schon, marsch, zurück ins Auto. Man soll einen coolen Guru nicht warten lassen, sonst wird es ihm noch zu heiß unter seiner Toga. Oder was immer er trägt.“ Roditis kicherte, öffnete die Wagentür und zog Noyes vom Geländer fort. Einen Moment lang wirkte Noyes recht unentschieden, als er versuchte, die volle Kontrolle über seinen Körper wiederzugewinnen. Dann stieß Roditis seinen Freund in den Wagen, setzte sich neben ihn und knallte die Tür zu.
    „Setz die programmierte Route fort“, sagte Roditis zum Wagen.
    Die Maschine summte auf. Der Wagen verließ rückwärts den Parkplatz, vollführte eine Drehung und fuhr auf die Brückenzollhäuschen zu. Über den Häuschen verkündete ein Schild die heutige Benutzungsgebühr für Pkw 83 Cents. Als der Wagen neben einem Zollhäuschen anlangte, fand ein kurzer Datenaustausch zwischen dem Brücken- und dem Wagencomputer statt; danach wurde Roditis’ Bankkonto automatisch mit der betreffenden Summe belastet. Über die schon ältere Brücke hielt der Wagen auf den gelben Turm des Lamaklosters vor ihnen zu.
    Im kühlen Wageninnern wischte sich Roditis mit einem Tuch den Schweiß von der zerfurchten Stirn. Verdrossen beobachtete er den anderen Mann. Mehr und mehr bereitete Noyes ihm Sorge, der mit seiner Passivität zu einer echten Gefahr zu werden drohte. Kein angenehmer Gedanke, sich von Noyes zu trennen, nachdem ihre Bekanntschaft so lange angedauert hatte und sie so gut miteinander ausgekommen waren.
    Vor neunzehn Jahren hatten sie sich im College kennengelernt. Damals hatten sie noch die gegenteilige Rolle gespielt: Noyes war Führer der Studentenschaft gewesen. Ein großer, schneidiger Bursche, dem man seine angelsächsisch-protestantische Herkunft ansah, ebenso wie das blonde Haar und die blauen Augen ihn als Mitglied er obersten Kaste auswiesen. Sieben Generationen Finanzadel standen hinter ihm. Roditis dagegen, der Sohn eines eingewanderten Schuhmachers, dem man seinen Stand ansah, war untersetzt und dunkel. Er studierte mit Hilfe eines Stipendiums und war ein Nichts. Aber Noyes hatte kein Geschick darin bewiesen, aus seinen vielfältigen Aktivposten etwas zu machen, während Roditis begabt genug gewesen war, aus dem bißchen, was er besaß, eine ganze Menge herauszuholen. Hier hatten sich auf den ersten Blick zwei Gegensätze angezogen und waren auf Dauer aneinander haften geblieben. Heutzutage kontrollierte Roditis ein Wirtschaftsimperium, während Noyes nur ein Rädchen in diesem großen Getriebe geworden war. Der arme Noyes. Er hatte mit zwei linken Händen seinen Reichtum verwaltet, war mit seinem Luxusweib nicht zu Rande gekommen und hatte sogar mit der Persönlichkeit Pech gehabt, die ihm eingepflanzt worden war. Roditis lehnte gönnerhaftes Verhalten anderen gegenüber ab; aber er konnte sich andererseits auch nicht eines Gefühls der Selbstgefälligkeit erwehren, wenn er heute seine Stellung mit der von Noyes verglich. Schade. Jammerschade.
    Die Maschine summte langsam aus, und der Wagen kam auf dem kiesbestreuten Parkoval unmittelbar vor dem Kloster zum Stehen. Die beiden Männer stiegen aus. Auf dieser Seite der Bucht schien es noch mindestens zehn Grad heißer zu sein. Ob die glatten Wände des Klosters die Hitze reflektierten, fragte sich Roditis. Er blickte auf und spürte, wie Anton Kozak in ihm begeistert von der durch Schlichtheit eleganten Architektur des Gebäudes sprach. Roditis ästhetisches Empfinden war seit der Aufnahme von Kozaks Bewußtsein unendlich erweitert worden. Einigen war es seltsam vorgekommen, daß ein Geschäftsmann wie Roditis sich einen Schall-Bildhauer für seine zweite Bewußtseinstransplantation erwählt hatte. Aber Roditis wußte genau, was er wollte. Er sammelte Identitäten wie andere vielleicht Aktienpakete sammelten: um Abwechslung zu haben und den eigenen Profit zu vergrößern.
    „Geht’s dir jetzt besser?“, fragte Roditis.
    „Viel besser“, sagte Noyes.
    „Und Kravchenko ist wieder nach tief unten verbannt?“
    „Ich glaube ja. Für heute hat er sich wohl ausgetobt.“
    „Falls es während unseres Hierseins zu weiteren Schwierigkeiten kommen sollte, kannst du ja den Guru um Hilfe bitten. Er wird ein paar Beschwörungsriten kennen, da bin ich mir sicher.“
    Noyes war blaß. Er sagte: „Das wird nicht nötig sein, John.“ Dann traten sie auf das Gebäude
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