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Noch einmal leben

Noch einmal leben

Titel: Noch einmal leben
Autoren: Robert Silverberg
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erklären kannst, spürst du es als großen Durst, der dich auf deinem Lebensweg bei jedem Schritt weiter austrocknen läßt, der dich plagt, als wärst du in einer Wüste glühend heißen Sandes. Wann immer du dich zur Ruhe hinlegen willst, werden monströse Gestalten vor dir auftauchen.
    Manche tragen Tierköpfe auf menschlichen Körpern, andere sind wie Riesenvögel mit gewaltigen Schwingen und Klauen. Ihr Geheul und ihre Hiebe treiben dich weiter. Dann trägt dich ein Hurrikan fort, aber die teuflischen Ungeheuer verfolgen dich unablässig weiter, sind dir ständig dicht auf den Fersen. Voller Todesangst wirst du dich nach einem sicheren Ort umsehen, der dir Schutz und Zuflucht bietet.
     
    Die beiden lasen stumm die Inschrift. Roditis sagte schließlich: „Da hat aber einer eine Menge Gold an einen Blödsinn verschwendet. Kennst du den Text?“
    „Natürlich, er stammt aus dem Bardo Thödol.“
    „Klar, dem guten alten Buch der Toten, was? Ein weisheitsschwangerer Gruß direkt aus dem Himalaja.“
    Noyes deutete auf die Inschrift an der gegenüberliegenden Wand. „Was hältst du denn davon?“
    Roditis drehte sich um, kniff die Augen zusammen und las:
     
    Der, der kein Urteil hat, dessen Geist unstet und dessen Herz unrein ist, wird niemals das Ziel erreichen, sondern wiedergeboren werden. Der, der aber ein Urteil besitzt, dessen Geist klar und dessen Herz rein ist, wird das Ziel erreichen. Und wenn er es erreicht hat, wird er nie mehr geboren.
     
    Ein Muskel zuckte in Roditis’ Wange. Frech meinte er: „Das ist reine Nirwana-Propaganda. Das ist Subversion. Ich hätte nicht gedacht, daß sie auch die westliche Zivilisation mit dieser Ideologie beglücken wollen.“
    „Was sollen sie sonst tun?“, sagte Noyes mit einem entschuldigenden Unterton. „Sie können ja schlecht die Kernpunkte ihres Glaubens verleugnen.“
    „Warum nicht? Wir haben doch den ganzen fernöstlichen Krimskrams übernommen und für unsere Zwecke umgemodelt. Und in unsere Zwecke paßt das Nirwana nun überhaupt nicht hinein. Sollen wir uns denn von der kosmischen Einheit aufsaugen lassen? Und nie mehr wiedergeboren werden? Das hat mit unseren Zielen überhaupt nichts zu tun. Noch einmal leben, das ist es doch, was wir wollen. Immer wieder und wieder. Ich verstehe nicht, warum sie uns jetzt mit diesem Zeugs kommen.“
    „Sie sehen sich als Erben des fernöstlichen Mystizismus“, sagte Noyes. „Als die, die dem westlichen Pragmatismus das Heil bringen. Nach ihrer Theorie ist nicht die Wiedergeburt, sondern das Loslösen vom Rad der Existenz das höchste Ziel. Klar?“
    „Ja, in der Theorie – aber nicht für mich.“
    Ein Mönch trat ein. „Der Guru ist nun bereit, Sie zu sehen“, murmelte er.
    Roditis schlurfte durch Weihrauchwolken. Seine Sandalen glitten über den glatten Steinboden. Über dem Türbogen entdeckte er einen weiteren Spruch aus eingelassenen Blattgoldbuchstaben:
    Dem Mensch ist es vorherbestimmt, einmal zu sterben
     
    Natürlich, sagte sich Roditis. Einmal zu sterben, dem stimme ich zu. Aber auch, daß er davor viele Male wiedergeboren wird. Angenehm fühlte er die Anwesenheit der Identitäten von Anton Kozak und Elio Walsh in sich, die wieder leben konnten, weil er ihre Persönlichkeiten in der Seelenbank erwählt hatte. Hatten sie sich nach dem süßen Vergessen im Nirwana verzehrt? Natürlich nicht! Sie hatten ihre Zeit in der kalten Seelenbank abgesessen und wandelten jetzt wieder über die Erde, waren Mitreisende in einem geschäftigen, vielseitigen und aktiven Kopf. Roditis wollte das Nirwana gern den rechtgläubigen Buddhisten überlassen. Er selbst zog die westliche Fassung des Glaubens vor.
    Der Guru wirkte wie ein Vertreter in Sachen Hoteleinrichtungen, dem ein Licht aufgegangen war. Noch nicht einmal sein glattrasierter Schädel und seine safrangelbe Robe konnten die groben, irdischen und amerikanischen Gesichtszüge verbergen: das herausragende Kinn, die vorstehenden Lippen, die feuchten, blauen Augen mit der Überfunktion der Schilddrüsen und die vorgewölbte Stirn. Er besaß einen stämmigen Körper, noch kleiner und gedrungener als der von Roditis, und war etwa sechzig Jahre alt, obwohl sich das nicht mit Bestimmtheit sagen ließ. Die einzigen Falten im Gesicht des heiligen Mannes waren die, die er schon als Jugendlicher besessen haben mußte. Jetzt waren sie nur etwas tiefer: entlang der kräftigen Nase verliefen zwei furchige Täler. Sein frischrasierter Schädel war rosafarben und glatt.
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