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Nobels Testament

Nobels Testament

Titel: Nobels Testament
Autoren: Liza Marklund
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Servietten lagen auf Tellern oder auf dem Boden, die Stühle waren verrückt, einige umgekippt. Um 22.45 Uhr waren in der Blauen Halle alle Aktivitäten zum Stillstand gekommen, die Zeit war stehen geblieben, und der Moment, in dem das nächste Besteck abgeräumt werden sollte, hatte nie stattgefunden.
    »Wie lange wird das Stadshuset gesperrt bleiben?«, fragte Annika.
    »So lange wie nötig. Wo haben Sie Ihre Jacke?«
    An der Garderobe stand ein uniformierter Polizist. Mit einer Miene, aus der die Blamage sprach, die er in dieser ihm zugeteilten Rolle empfand, reichte er Annika ihre Daunenjacke.
    »Ich hatte auch noch Schuhe«, sagte Annika. »Stiefel.«
    Die Niedergeschlagenheit des Polizisten war grenzenlos, als er zurückging, um nach der Schuhtüte zu suchen. Annika wandte sich ab und holte wieder ihr Handy aus der Tasche. Während der Polizist in der Kammer hinter ihr herumkramte, öffnete sie den Ordner mit den Bildern vom Goldenen Saal und drückte auf
Senden.
    Wütend starrte sie die schnörkeligen Bronzeleuchter in der Vorhalle an, während die MMS durch die pechschwarze Winternacht davonflog und auf dem Fotoserver des
Abendblattes
landete.

Freitag, 11. Dezember
    Anders Schyman stand in seinem Eckzimmer und schaute hinunter auf die Russische Botschaft. Das gesamte Gelände lag im Dunkeln, nur die schwache Laterne am Eingang war von einem Lichtschein umgeben, und aus dem Wachhäuschen mit dem verfrorenen Soldaten drang Helligkeit hervor. Gelegentlich unternahm der Soldat kleine Ausflüge, ein paar Schritte den Drahtzaun entlang und wieder zurück, wobei er sich immer wieder die Arme um die Schultern schlug.
    Wie der sich wundern würde, wenn etwas passierte, dachte der Chefredakteur. Wie verdammt überrascht er sein würde, wenn jemand mit einem Auto vorfahren und auf das Botschaftsgebäude schießen oder wenn jemand über die Mauer klettern und ihm genau vor die Füße springen würde. Er hätte keine Chance, denn der Eindringling hätte alle Vorteile auf seiner Seite: den Überraschungsmoment, die Zielsicherheit, das Wissen darüber, welcher Schritt als nächster folgen würde.
    Wir sind auf unangenehme Weise ausgeliefert, dachte Anders Schyman. So schrecklich verletzbar. Es ist vollkommen unmöglich, die ganze Zeit wachsam zu sein, nie ein Detail der Sicherheitskontrolle zu vernachlässigen. Die ganze Welt befand sich in diesem Dilemma, nicht nur der Westen, nicht nur die Demokratie: Alle waren auf dieselbe Art und Weise der wirklich rücksichtslosen Kriminalität ausgeliefert.
    Geld, Macht und Einfluss, dachte Schyman. Von denen, die eine Abkürzung nahmen, um das zu erlangen, war die Welt noch nie verschont geblieben. Aber es schien, als ob alles noch brutaler und schlimmer geworden war.
    Es ging das Gerücht, dass der Nobelmörder eine Frau war. Auf der Pressekonferenz hatte die Polizei überhaupt nichts bestätigt oder entkräftet. Sie wollten sich nicht über Feindbilder oder Sicherheitsvorkehrungen äußern. Der Sicherheitsstandard war gut gewesen, doch man wusste nicht, wo die Lücke entstanden war. Die Vorschriften waren genau nach Plan eingehalten worden, niemand konnte sagen, warum sie nicht ausreichend gewesen waren.
    Es hatte zu schneien begonnen, verirrte Flocken, die zaghaft zu Boden fielen. Anders Schyman spürte, wie die Müdigkeit in seinen Augen brannte, er blinzelte ein paarmal und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Schaute auf seine Armbanduhr.
    Das ist wirklich nicht meine Welt, dachte er. Wenn so die Gegenwart aussieht, wenn das die neuen Umstände sind, wenn der Terrorismus bei uns Einzug gehalten hat und die Zukunft reines Sicherheitsdenken ist, dann sollte ich vielleicht abtreten. Wo Terrorismus beginnt, stirbt die Freiheit des Individuums. Die allgemeine Sicherheit wird als Argument für weitere Einschränkungen und noch mehr Überwachung ins Feld geführt werden. Und das Prinzip der Öffentlichkeit wird eine leere Hülle werden. Um die Interessen der neuen Zeit wahrzunehmen, bedarf es vermutlich eines neuen Schlages von Journalisten, und die brauchen wohl eine neue Art der Führung.
    Für einen Moment verfiel er in Selbstmitleid, die Inhaberfamilie hatte ohnehin kein Vertrauen mehr zu ihm. Er hatte keine Aussicht mehr auf eine wichtige Position.
    »Annika ist jetzt da«, sagte Jansson über die Gegensprechanlage.
    Er drückte auf den Knopf und lehnte sich vor, um zu antworten.
    »Schön. Kommen Sie zu mir.«
    Wie sie aussieht, dachte er, als sie den Raum betrat.
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