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Noah: Thriller (German Edition)

Noah: Thriller (German Edition)

Titel: Noah: Thriller (German Edition)
Autoren: Sebastian Fitzek
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sie sich um den letzten Schluck aus einer gemeinsam erbettelten Flasche.
    »Wen meinst du?«
    »Schräg rechts, die mit den seltsamen Haaren. Sie umklammert einen Rucksack vor der Brust.«
    Als wäre ihr Leben drin.
    »Die mit dem Vierauge redet?«
    »Ja.«
    Neben ihr stand ein junger, drahtiger Mann mit schulterlangen Haaren und einer John-Lennon-Brille auf der Nase. Noah hatte ihn dabei beobachtet, wie er vor wenigen Minuten aus einem silbernen Kleinbus mit der Aufschrift »Kältemobil« gestiegen war. Zuerst hatte er gedacht, der Bus würde weiteren Nachschub für das Heim bringen; einen neuen Schwung verlorener Seelen, die jeden Abend vor den Toren der Caritas strandeten. Aber der Fahrer war alleine ausgestiegen und hatte sich suchend umgeschaut, während er zögernd die Schlange abgeschritten war, bis er schließlich das Mädchen entdeckte.
    »Das ist Pattrix«, klärte Oscar ihn auf.
    Noah nickte. Es hätte ihn auch gewundert, wenn Oscar sie nicht erkannt hätte. Er lebte seit über vier Jahren »auf Platte«. Eine lange Zeit, in der es Oscar erstaunlich gut gelungen war, dem Tauschhandel zu widerstehen, den die meisten seiner Schicksalsgenossen eingegangen waren: Intelligenz gegen Promille.
    Mit clownartig großen Stiefeln, mehrlagigen dreckstarren Hosen, einem sich im Zustand der Auflösung befindlichen Norwegerpulli und einer speckigen Fliegerjacke, die sich beim besten Willen nicht über seinem Bauch schließen wollte, war Oscar ähnlich erbärmlich gekleidet wie all die anderen hier, die das Kettenkarussell des Lebens aus der Bahn geschleudert hatte. Was Klamotten anging, hatte Noah mal einen besseren Geschmack gehabt, zumindest, wenn er die Sachen, die er am Leib trug, selbst ausgesucht hatte. Als Oscar ihn fand, halbtot neben den Gleisen, hatte Noah in teurer und warmer Kleidung gesteckt, die ihm heute gute Dienste erwiesen: gefütterte Stiefel mit Gummikappe, schwarze Jeans mit Cargo-Taschen an den Seiten, eine matt glänzende, tiefschwarze Schneejacke mit Kapuze, die sich in der Hüfte zusammenschnüren ließ. Insgesamt schleppte er anderthalb Kilo an Kleidungsgewicht mit sich herum, die lange Unterhose und dicke Thermosocken nicht mitgerechnet.
    »Pattrix?«, fragte Noah.
    »Ihr Spitzname. Eine Mischung aus Patricia und Pattex.«
    Oscar formte mit beiden Händen eine Tüte und tat so, als inhaliere er Klebstoff. »Weshalb glaubst du wohl, sieht die so stumpf aus? Ihr Foto auf einer Zigarettenpackung, und niemand würde mehr rauchen.«
    Noah stimmte ihm zu. Womöglich war das Mädchen gerade im Rausch, das würde ihren trüben Blick erklären und auch, weshalb ihr die arktischen Windböen nichts auszumachen schienen. Sie wirkte völlig abwesend, wie in eine andere Welt entrückt. Noah ging jede Wette ein, dass sie nicht einmal wahrgenommen hatte, dass sich ihre Blase vor einer Viertelstunde entleert hatte, wovon ein dunkler Fleck zwischen ihren Beinen zeugte.
    Ebenso unwahrscheinlich war es, dass auch nur ein einziges Wort des bebrillten Mannes zu ihr durchdrang, der gerade auf sie einredete. Noah konnte nicht verstehen, was er zu ihr sagte, aber es war offensichtlich, dass er die zugedröhnte Teenagerin dazu bewegen wollte, mit zum Wagen zu kommen.
    Zum Kältemobil.
    Und das musste er um jeden Preis verhindern, auch wenn Noah in diesem Moment niemandem hätte erklären können, weshalb.
    »Hey, bist du verrückt geworden?«
    Oscar zog am Ärmel seiner Jacke, um ihn daran zu hindern, aus der Reihe zu treten.
    »Wenn du jetzt deinen Platz aufgibst, können sie dich morgen mit einem Eiskratzer von der Straße spachteln.«
    Oscar deutete auf die gewaltige Menge vor und hinter ihnen. Von den elftausend Obdachlosen, die die Hauptstadt nach beschönigten Schätzungen zählte, schien die Mehrheit heute Abend den Weg in die Franklinstraße gefunden zu haben. Kein Wunder, wurde doch die kälteste Nacht des Jahres erwartet.
    »Ich muss ihr helfen«, erklärte Noah.
    »Helfen?«, zischte Oscar erregt und warf einen nervösen Blick über seine Schulter. »Welchen Teil zwischen ›Sag kein Wort‹ und ›Bloß nicht auffallen‹ hast du eben nicht verstanden?« Er tippte sich an die Stirn. »Das lässt du mal schön bleiben, Großer. Außerdem kümmert sich doch schon jemand um die.«
    Ja. Aber das ist der Falsche.
    Eigentlich hätte Noah erleichtert sein müssen. An Tagen, an denen die Minusgrade in den zweistelligen Bereich sanken, waren die dreiundsiebzig Betten des Nachtheims schneller weg als Schnee auf einer
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