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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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vergangen. Der Hubschrauber fliegt nicht mehr und anstelle von Polizeibeamten, Männern der Küstenwache und freiwilligen Helfern befinden sich nur noch Nachbarn in unserer Küche. Dann kehren auch die Nachbarn zu ihrem eigenen Leben zurück, abgesehen von Mary.
    Ein paar Tage später meint Mary, wir sollten doch beide wieder zur Schule gehen. Es tue uns nicht gut, ständig zu Hause zu sein und zu warten, immer nur zu warten.
    Fünf Wochen darauf macht ein Kletterer mehrere Meilen
die Küste abwärts eine Entdeckung. Er findet den Schiffsrumpf der Peggy Gordon , kopfüber zwischen den Felsen verkeilt. Er liest ihren Namen. Die Küstenwache fährt dorthin und ein Team von Tauchern sucht die See in dieser Gegend ab. Von Dad keine Spur. Schließlich bergen sie das Boot aus den Klippen, um es gründlich untersuchen zu können und herauszufinden, was das Unglück verursacht hat. Aber das Boot liefert keinen Anhaltspunkt.
    Mum sagt zu uns: »Wir müssen es akzeptieren. Euer Dad hatte einen Unfall.«
    »Nein!«, schreit Conor und knallt seine Fäuste auf die Tischplatte. »Nein, nein, nein! Dad würde die Peggy Gordon nie auf diese Art und Weise verlieren. Nicht in einer ruhigen Nacht!« Er stürmt aus dem Haus, schnappt sich sein Fahrrad und verschwindet. Ich vermute, dass er zu Jack fährt. Wie auch immer, jedenfalls kommt er spät nach Hause, und als er in mein Zimmer schleicht, um die Leiter zum Dachboden hochzuklettern, schlafe ich schon halb.
    »Conor?«
    »Pst.«
    »Alles okay. Mum schläft schon. Sie hat den ganzen Abend …«
    »Geweint?«
    »Nein, vor sich hingestarrt. Ich hasse das.«
    »Ich weiß.«
    »Wo ist Dad?«
    Ich bin immer noch im Halbschlaf, sonst hätte ich diese Frage nie gestellt. Woher soll Conor das wissen, wenn es sonst niemand weiß? Die Frage ist mir einfach so rausgerutscht. Doch Conor ist mir nicht böse. Er geht auf Zehenspitzen zu mir und kniet sich neben mein Bett.

    »Ich weiß nicht, was passiert ist, Saph. Aber er ist nicht ertrunken. Da bin ich ganz sicher. Wenn er ertrunken wäre, dann wüssten wir es. Wir würden es fühlen. Wir würden einen Unterschied bemerken, wenn er tot wäre.«
    »Ja«, sage ich. Die Erleichterung durchflutet mich. »Du hast Recht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass er tot ist.«
    Conor nickt. »Wir werden ihn finden, Saph. Egal, wie lange es dauert. Aber du darfst Mum nichts davon erzählen. Schwöre!«
    »Ich schwöre«, entgegne ich und spucke auf meine rechte Handfläche. Conor spuckt auf seine und wir schlagen unsere Handflächen aneinander. Danach schlafe ich ein.
     
    In der Kirche wird ein Gedenkgottesdienst für Dad abgehalten. Mum erklärt uns, dass es kein richtiges Begräbnis geben kann, weil Dads Körper nicht gefunden wurde. Er wurde nicht gefunden, weil es nichts zu finden gibt. Dad ist nicht tot, denke ich und weiß, dass Conor dasselbe denkt.
    Alle erscheinen in dunkler Kleidung und mit traurigen Gesichtern.
    »Oh, meine arme Jennie«, sagen sie und legen Mum den Arm um die Schultern. Manche Frauen küssen mich, obwohl ich darauf wirklich keinen Wert lege. Conor macht ein finsteres Gesicht und verschränkt die Arme, damit bloß keiner auf die Idee kommt, auch ihn zu küssen. Er ist wütend, weil alle wie Schafe zum Gedenkgottesdienst trotten und glauben, Dad sei gestorben, obwohl sein Körper nie gefunden wurde. Die meisten glauben, er sei sehr tapfer, Mum zuliebe.
    »Jetzt bist du der Mann im Haus, Conor«, sagt Alice
Trewhidden mit ihrer knarrenden, alten Stimme. »Eure Mutter kann sich glücklich schätzen, einen Sohn zu haben, der sich um sie kümmert.« Alice mag nur Jungs, keine Mädchen. In ihren Augen existieren Mädchen gar nicht.
    »Conor muss sich um sein eigenes Leben kümmern, Alice«, entgegnet Granny Carne mit Schärfe. Ich habe Granny Carne gar nicht kommen sehen, doch plötzlich steht sie da: groß, stark und gebieterisch. Die Leute weichen respektvoll zurück. Jeder zollt Granny Carne Respekt, als wäre sie eine Königin. »Conor muss seine eigenen Entscheidungen treffen«, fährt Granny Carne fort. »Niemand von uns kann ihm dies abnehmen.«
    Die mürrische, scharfzüngige Alice Trewhidden erwidert nichts. Sie murmelt etwas vor sich hin und bewegt sich wie ein Krebs zur Seite, um einen guten Platz zu finden. Sie hat nicht direkt Angst vor Granny Carne, doch sie will sich nicht mit ihr anlegen. Niemand will das.
    Ich wundere mich, dass Granny Carne überhaupt zu dem Gedenkgottesdienst gekommen ist. In der Kirche habe ich
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