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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut
Autoren: H Dunmore
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Laufe vieler, vieler Jahre die Steine immer weiter abschleift, bis schließlich nur noch Sand übrig ist? Niemand sieht es, weil es so langsam geschieht. Und schließlich ist der Sand so fein, dass er dir durch die Finger rieselt. Dad zu verlieren, ist so, als würde man langsam aufgezehrt von einer Kraft, die so gewaltig ist, dass man ihr nichts entgegenzusetzen hat. Wir sind wie Steine, die langsam abgeschliffen werden.
    Wer Mum, Conor und mich oberflächlich betrachtet, der denkt vermutlich, wir hätten uns nicht verändert, abgesehen von der Tatsache, dass wir alle ein Jahr älter geworden sind. Aber wir sind nicht mehr dieselben, die wir waren. Etwas Unsichtbares hat sich verändert, etwas in unseren Gedanken und Gefühlen. Ich will diese Veränderung nicht, aber ich kann sie nicht aufhalten.
     
    »Wo ist Conor? Hast du ihn gesehen?« Mum hastet durch die Räume. Sie muss gleich zur Arbeit. Zurzeit wirkt sie
ständig gehetzt, aber das heißt zumindest, dass sie aufgehört hat, nur herumzusitzen und in die Luft zu starren.
    Mum arbeitet in einem Restaurant in St Pirans und ist diese Woche für die Abendschicht eingeteilt. Sie geht um vier und kommt erst nach Mitternacht zurück.
    Vor dem Spiegel im Wohnzimmer bleibt sie stehen, um Lippenstift aufzulegen und ihre Haare hochzustecken. Früher trug sie nicht jeden Tag Lippenstift.
    »Sapphire, hörst du mich?« Mum schnippt mit den Fingern. Ich zucke zusammen. Sie schnippt ziemlich viel in letzter Zeit. Sie meint es nicht so; es ist nur, weil sie müde ist. Sie arbeitet in einem der neuen, teuren Restaurants unten am Hafen. Die Trinkgelder sind gut, aber die Arbeitszeit in der Sommersaison ist lang. Von einer Tischgesellschaft bekam Mum letzte Woche eine Zwanzigpfundnote. Zwanzig Pfund! Wie viel Geld muss man haben, um nicht nur das Essen zu bezahlen, sondern darüber hinaus noch zwanzig Pfund Trinkgeld zu geben? Aber natürlich gibt es auch geizige Leute, die hundert Pfund für ein Essen ausgeben, jedoch meinen, ein Pfund Trinkgeld sei genug.
    »Sapphire! Hörst du endlich mal auf zu träumen?«
    »Tut mir Leid, Mum!«
    »Zum dritten Mal, wo ist Conor?«
    »Der ist zu Jack gegangen.« Ich habe keine Ahnung, wo Conor ist, doch ich möchte, dass Mum unbeschwert zur Arbeit geht.
    »Ich habe ihm gesagt, er soll um drei wieder da sein«, sagt Mum. »Ich lasse dich nur ungern allein, Sapphy. Ich weiß zwar, dass du schon zurechtkommst, aber mir ist wohler, wenn Conor zu Hause ist. Herrje, diese Schulferien nehmen einfach kein Ende.«

    »Aber die haben doch gerade erst angefangen, Mum!«
    »Für die Lehrer ist das kein Problem. Die brauchen die ganzen Ferien über nicht zu arbeiten und können mit ihren Kindern zusammen sein. Die müssen nicht weiter ihrem Job nachgehen und schlaflose Nächte verbringen, weil sie nicht wissen, was nur aus ihren Kindern werden soll.«
    »Ach, Mum, wir sind doch keine Babys mehr. Wir sind sehr vernünftig und Conor wird bestimmt gleich wieder da sein. Wenn ich … wenn ich allerdings einen Hund hätte, wäre ich nie wieder allein zu Hause.«
    »Jetzt fang doch nicht wieder damit an, Sapphire! Ach, verdammt, jetzt ist mein Lippenstift verschmiert.«
    »Ich finde, ohne Lippenstift siehst du sowieso besser aus.«
    »Die Gäste finden das aber nicht«, murmelt sie, während sie den verschmierten Lippenstift abwischt und neuen aufträgt. »Schau dir nur die Ringe unter meinen Augen an, Sapphy, ich muss unbedingt ein bisschen Make-up auflegen. Wenn Conor um fünf noch nicht zurück ist, dann ruf mich auf dem Handy an.«
    Es ist so ungerecht. Jack hat drei Hunde und wir keinen einzigen. Seine Mutter hat gesagt, wir könnten Sadie bekommen, meinen Lieblingswelpen mit dem abgeknickten Ohr, doch Mum erlaubt es uns nicht. Wir haben ihr immer wieder gesagt, dass wir uns ganz alleine um Sadie kümmern würden, mit ihr spazieren gehen und alles andere, doch Mum fragt, was ist, wenn sie zur Arbeit geht und wir in die Schule müssen.
    Sadie ist so niedlich. Sie ist jetzt über ein Jahr alt, doch Jacks Familie hat sie bisher an niemand anderen verkauft. Ihr Fell hat eine hellbeige, goldene Farbe, und ihre großen,
sanften braunen Augen sehen dich an, als wüssten sie alles über dich. Und sie versteht dich, wenn du mit ihr sprichst. Ich gehe mit ihr spazieren, wann immer ich kann. Das ist ein bisschen so, als hätte ich selbst einen Hund. Sie geht sofort neben mir, wenn ich sage: »Bei Fuß, Sadie!« Leute, die in ihren Autos vorbeifahren, denken sicher,
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