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Nirgendwo in Afrika

Titel: Nirgendwo in Afrika
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht mehr Rechtsanwalt sein durfte. Mama hatte ihr das auf dem Schiff erzählt und sie sehr gelobt, weil sie alles so gut verstanden und keine dummen Fragen gestellt hatte, doch nun, in der neuen Luft, die gleichzeitig heiß und feucht war, konnte sich Regina nicht mehr an das Ende der Geschichte erinnern.
    Sie sah nur, daß die blauen und roten Blumen auf dem weißen Kleid ihrer Mutter wie Vögel umherflogen. Auch auf Papas Stirn leuchteten winzige Perlen, nicht so schön und bunt wie auf Owuors Gesicht, aber doch lustig genug, um zu lachen.
    »Komm, Kind«, hörte Regina ihre Mutter sagen, »wir müssen sehen, daß du sofort aus der Sonne kommst«, und sie merkte, daß ihr Vater nach ihrer Hand griff, doch die Finger gehörten ihr nicht mehr. Sie klebten an Owuors Hemd fest.
    Owuor klatschte in die Hände und gab ihr die Finger zurück.
    Die großen schwarzen Vögel, die auf dem kleinen Baum vor dem Haus gehockt hatten, flogen kreischend zu den Wolken, und dann flogen Owuors nackte Füße über die rote Erde. Im Wind wurde das Engelshemd eine Kugel. Owuor weglaufen zu sehen, war schlimm.
    Regina spürte den scharfen Schmerz in der Brust, der immer vor einem großen Kummer kam, aber sie erinnerte sich rechtzeitig, daß ihre Mutter gesagt hatte, sie dürfe in ihrem neuen Leben nicht mehr weinen. So kniff sie die Augen zu, um die Tränen einzusperren. Als sie wieder sehen konnte, kam Owuor durch das hohe gelbe Gras. In seinen Armen lag ein kleines Reh.
    »Das ist Suara. Suara ist ein Toto wie du«, sagte er, und obwohl Regina ihn nicht verstand, breitete sie die Arme aus. Owuor gab ihr das zitternde Tier. Es lag auf dem Rücken, hatte dünne Beine und so kleine Ohren wie die Puppe Anni, die nicht mit auf die Reise hatte kommen dürfen, weil kein Platz mehr in den Kisten gewesen war. Noch nie hatte Regina ein Tier angefaßt. Aber sie spürte keine Angst. Sie ließ ihr Haar über die Augen des kleinen Rehs fallen und berührte seinen Kopf mit ihren Lippen, als hätte sie schon lange danach verlangt, nicht mehr nach Hilfe zu rufen, sondern Schutz zu geben.
    »Es hat Hunger«, flüsterte ihr Mund. »Ich auch.«
    »Großer Gott, das hast du in deinem ganzen Leben nicht gesagt.«
    »Mein Reh hat das gesagt. Ich nicht.«
    »Du bringst es hier noch weit, scheue Prinzessin. Du redest jetzt schon wie ein Neger«, sagte Süßkind. Sein Lachen war anders als das von Owuor, aber auch gut für die Ohren.
    Regina drückte das Reh an sich und hörte nichts mehr als die regelmäßigen Schläge, die aus seinem warmen Körper kamen. Sie machte ihre Augen zu. Ihr Vater nahm das schlafende Tier aus ihren Armen und gab es Owuor. Dann hob er Regina hoch, als sei sie ein kleines Kind, und trug sie ins Haus.
    »Fein«, jubelte Regina, »wir haben Löcher im Dach. So etwas hab' ich noch nie gesehen.«
    »Ich auch nicht, bis ich herkam. Warte nur ab, in unserem zweiten Leben ist alles anders.«
    »Unser zweites Leben ist so schön.«
    Das Reh hieß Suara, weil Owuor es am ersten Tag so genannt hatte. Suara lebte in einem großen Stall hinter dem kleinen Haus, leckte mit warmer Zunge Reginas Finger ab, trank Milch aus einer kleinen Blechschüssel und konnte schon nach einigen Tagen an zarten Maiskolben kauen. Jeden Morgen machte Regina die Stalltür auf. Dann sprang Suara durch das hohe Gras und rieb bei der Heimkehr den Kopf an Reginas braunen Hosen. Sie trug die Hosen seit dem Tag, an dem der große Zauber begonnen hatte. Wenn abends die Sonne vom Himmel fiel und die Farm in einen schwarzen Mantel hüllte, ließ sich Regina von ihrer Mutter die Geschichte von Brüderchen und Schwesterchen erzählen. Sie wußte, daß sich auch ihr Reh in einen Jungen verwandeln würde.
    Als Suaras Beine länger waren als das Gras hinter den Bäumen mit den Dornen und Regina schon die Namen von so vielen Kühen kannte, daß sie ihrem Vater beim Melken sagen mußte, wie sie hießen, brachte Owuor den Hund mit weißem Fell und schwarzen Flecken. Seine Augen hatten die Farbe heller Sterne. Die Schnauze war lang und feucht. Regina schlang ihre Arme um den Hals, der so rund und warm war wie Owuors Arme. Mama rannte aus dem Haus und rief: »Du hast doch Angst vor Hunden.«
    »Hier nicht.«
    »Den nennen wir Rummler«, sagte Papa mit einer so tiefen Stimme, daß Regina sich verschluckte, als sie zurücklachte. »Rummler«, kicherte sie, »ist ein schönes Wort. Genau wie Suara.«
    »Rummler ist aber Deutsch. Dir gefällt doch nur noch Suaheli.«
    »Rummler gefällt
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