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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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dort unten, wie wir zusammen in winzigen Restaurants essen, im Regen zurück zum Hotel rennen, genau wie früher. Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass du mir grünes Licht gibst. Immer, wenn ich dich im Büro sah, hoffte ich, dass das der Tag wäre, an dem du es dir anders überlegst. Oder zumindest dachte ich, du würdest dich von mir zum Essen einladen lassen, damit wir ein bisschen was nachholen können.«
    Ich zögerte. »Ich musste dort unten mit jemandem sprechen.«
    »Ich weiß. Ich hab es gehört. Das ist alles ziemlich unglaublich.«
    Laute Musik wehte plötzlich zur Tür herein, als eine Gruppe alter Männer mit Trompeten vorbeilief.
    »Wir haben nie richtig darüber gesprochen, was in Guatemala passiert ist«, begann er.
    »Ist schon okay, Henry. Das ist lange her.«
    »Nicht so lang.« Er löffelte das Kaffeepulver in eine Cafetière und goss dampfendes Wasser darauf.
    »Das hatte ich ganz vergessen. Du bist immer noch der Bistrokanne treu ergeben.«
    »Das ist die einzig zivilisierte Art.«
    Ich beobachtete die Straße, während er den Kaffee ziehen ließ. Dann brachte er zwei Porzellantassen - eine gelb, eine blau - an den Tisch.
    »Hübsch.«
    »Vom Flohmarkt. Ich dachte, es wäre nett, wenn das ganze Geschirr bunt zusammengewürfelt ist.« Der 21er-Bus zur Valencia Street fuhr vorbei, und der Kronleuchter über dem Tisch klirrte. Henry goss den Kaffee ein und setzte sich.

    »An dem Abend in Guatemala«, begann er. »Ich glaube, mir wurde das einfach alles zu viel. Ich wollte nicht mehr streiten. Wir stritten uns ununterbrochen.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Es tut mir leid.«
    Draußen auf der Straße knallte es mehrmals hintereinander laut, gefolgt von Rufen und Gelächter. Ich wandte mich um und sah einen Trupp halbwüchsiger Mädchen unterwegs Richtung Mission, die Feuerwerkskörper zündeten. Sie trugen alle die gleichen schwarzen Kleider und dunkelroten Lippenstift, das Haar straff zum Pferdeschwanz zurückgekämmt. Henry trank einen Schluck Kaffee. »Du wirkst verändert.«
    »Inwiefern?«
    »Du warst immer so nervös, hibbelig, hast dir ständig über die Schulter gesehen.«
    »Und jetzt?«
    »Ich weiß auch nicht. Du bist gelöster.«
    »Das ist noch etwas, was ich vergessen hatte.«
    »Hmm?«
    »Du konntest schon immer durch mich hindurchsehen. Das war mir unangenehm. Du kanntest mich zu gut.«
    »Ist das etwas Schlechtes?«, fragte Henry.
    »Damals habe ich es so empfunden.«
    Eine Zeit lang saßen wir schweigend da und sahen zu, wie die Polizei Straßensperren für die Parade aufbaute.
    »Weißt du noch?«
    »Ja.« Ich wusste, dass er an den Abend vor einigen Jahren dachte, als wir uns der Prozession am Tag der Toten angeschlossen hatten - seine Idee.
    »Du sahst gut aus in deinem Skelettkostüm«, sagte er.
    »Wirklich?« Ich musste lachen.
    Ich erinnerte mich, wie meine Haut unter der weißen Schminke gespannt hatte. Und ich hatte ein Foto von Lila in
der Tasche. Die Aufnahme hatte ich in dem Stall in Montara mit einer Kompaktkamera gemacht, kurz nachdem Lila Dorothy bekommen hatte. Ich hatte vergessen, den Blitz auszuschalten, und auf dem Foto bäumt sich Dorothy erschreckt durch das helle Licht auf. Lila beugt sich vor und hält sie fest, aber sie wirkt überhaupt nicht ängstlich. Sie sieht sogar aus, als würde sie sich königlich amüsieren.
    »Kannst du dich noch an das Foto erinnern?«, fragte ich.
    »Aber natürlich. Du hast es auf den Altar gelegt. Und dann, als wir gehen wollten, hast du es dir wiedergeholt.«
    »Das hast du gesehen?«
    Henry nickte.
    »Warum hast du denn nichts gesagt?«
    »Ich dachte mir, du hättest schon deine Gründe.«
    »Als das Bild dort lag, habe ich es mir anders überlegt. Ich wollte sie nicht aufgeben, selbst wenn es nur ein Foto war.«
    Durch die offene Tür konnte ich die aufziehende Abendkühle spüren. Das Licht schwand. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Dieser Kaffee sollte meine Hausmarke werden. Er ist fantastisch.«
    Ich streckte den Arm über den Tisch und nahm seine Hand. Er wirkte ein wenig erschrocken, zog sie aber nicht weg. Seine blauen Augen waren so ungewöhnlich, so schön. Das war das Erste gewesen, was ich an ihm bemerkt hatte, als wir uns kennenlernten; ich ging davon aus, dass es jedem so erging. Wie konnte es anders sein? In einem bestimmten Licht waren seine Augen so hell, dass sie fast durchsichtig wirkten. Dort am Tisch sitzend, dachte ich über diese sonderbare genetische Veranlagung nach, diese merkwürdige
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