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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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Sternbild Lyra?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Ich erzählte Henry die Geschichte, die Lila mir in jener Nacht vor dreißig Jahren erzählt hatte. Wie Orpheus in die Unterwelt gegangen war, um seine Frau Eurydike von den Toten zurückzuholen, und wie er im letzten Moment sein Versprechen an die Götter gebrochen und sich zu ihr umgedreht hatte. »Als er sich umblickte, entglitt sie ihm«, sagte ich. »Nach Orpheus’ Tod warf Zeus seine Leier in den Himmel, und daraus entstand das Sternbild Lyra.«
    »Traurige Geschichte.«
    »Ja. Aber die eigentlichen Fakten sind unsentimental: Lyra hat eine Rektaszension von 19 Stunden und eine Neigung von 40 Grad. Es enthält die Sterne Wega, Sheliak, Sulafat, Aladfar, Alathfar und den Doppelstern Epsilon. Von vier Sternen im Bild Lyra weiß man, dass sie Planeten haben. Die beste Zeit, die Formation zu sehen, ist im August.«

    Henry lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich dir so ganz folgen kann.«
    »Diese ganze Sache mit Orpheus und Eurydike - dass er diesen entscheidenden Fehler machte und sie für immer verlor -, das ist nur eine Geschichte. Man kann sie glauben oder auch nicht. Geschichten sind nicht in Stein gemeißelt. Um das herauszufinden, habe ich ewig gebraucht.«
     
    Später half ich Henry noch bei einigen allerletzten Details: Spiegel in den Toiletten aufhängen, Kerzen und kleine Blumenvasen auf die Tische stellen, die Fußböden kehren. Als ich ging, war es draußen bereits dunkel und die Straßen voller kostümierter, feiernder Menschen. Ich lief gegen den Strom die Valencia Street hinunter. Eine Truppe spärlich bekleideter Tänzer wirbelte um mich herum, bewegte sich synchron zum gespenstischen Schlag der Trommeln. Es roch nach Weihrauch. Zwei Polizisten fuhren langsam die Straße entlang, ihre Motorräder knatterten. Ich trat zur Seite, um einigen Männern in zerlumpten Anzügen auszuweichen, die einen gigantischen Scheiterhaufen trugen. Oben auf der Spitze saß eine nackte Frau, von Kopf bis Fuß weiß angemalt.
    Ich versuchte, mich durch die Menge zu schieben, aber ich bewegte mich in die falsche Richtung. Schon bald wurde ich von der lärmenden, trudelnden Masse nach Süden auf die Eighteenth Street mitgerissen. Die Musik, die Stimmen, der Geruch von Schweiß und Alkohol und Weihrauch gaben mir das Gefühl, in einer Art absurdem Traum gefangen zu sein. Die Kostüme waren dunkel und makaber, die Atmosphäre dennoch festlich. Kurz lief ich Seite an Seite mit einem großen, hageren Mann in Smoking und Melone, dessen rote Lippen sich grell von der weißen Gesichtsschminke abhoben. Er hielt Händchen mit einer kleinen Frau in einem langen weißen
Kleid und einem Umhang aus violetten Federn, der anscheinend so schwer war, dass sie gebeugt ging. Ein Mann mit Skeletthandschuhen schob sich an uns vorbei und spielte dabei auf einer Posaune. Der Smokingmann bog in eine andere Straße ein, und ich war umgeben von mexikanischen Schulkindern in roten Kleidern, die zum Rasseln ihrer Maracas eine vertraute Melodie sangen. Ihre Lehrerin, eine wunderschöne junge Frau Mitte zwanzig, war ebenfalls rot gekleidet; ihr Gesicht war weiß angemalt, ein Skelett, wenn auch ein glückliches, lächelndes. Die Lehrerin führte den Gesang der Kinder an, und dann tauchte eine Mariachi-Gruppe von der gegenüberliegenden Straße auf und begleitete sie mit Gitarren und Bass.
    Ich weiß nicht, wie lange ich von der Menge weitergeschubst wurde, bis ich irgendwann am Garfield Park ankam. Überall waren Altäre zu Ehren der Toten aufgebaut worden. Es gab unzählige davon, von sehr einfachen bis zu überwältigend kunstvollen. Die Leute hatten Blumen darauf abgelegt, Spielzeugskelette und Plastikknochen, Bücher, Schnapsgläser voll Tequila, kleine weiße Totenschädel aus Zucker. Und auf jedem der Altäre, die sich über den gesamten Park und bis in die dunklen Gassen darüber hinaus erstreckten, standen und lagen Fotos. Tausende von Augenpaaren starrten die Vorübergehenden durch das Kerzenlicht an. Hier war das Gedränge weniger rüpelhaft. Höflich schoben sich die Leute aneinander vorbei, um ihre Bilder auf den Gemeinschaftsaltären aufzustellen. Als ich näher kam, merkte ich, dass ich mich unwillkürlich in eine lange Schlange eingereiht hatte, die langsam auf den größten Tisch zumarschierte. Vor mir umklammerte ein junges Mädchen in Weiß mit beiden Händen ein Foto, Tränen standen ihr in den Augen. Immer wieder wanderte ihr Blick zu McDonald’s, wo ihr Vater auf sie
wartete. Hinter mir
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