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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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alles erzählt, was ich weiß. Es tut mir leid, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich habe nichts mehr zu geben.«
    Sein Blick fiel auf meinen Hals. Er beugte sich vor und streckte die Hand nach mir aus. Den Bruchteil einer Sekunde, als ich seine warmen Finger auf meiner Kehle spürte, hatte ich das eigenartige Gefühl, er würde mich vielleicht küssen. In diesem Moment entschloss ich mich, nicht zurückzuweichen. »Das ist ja Lilas Kette«, sagte er verwundert.
    Ich hatte seine Geste falsch gedeutet. Nun spürte ich den sanften Druck der Goldkette in meinem Nacken, als er den Topasanhänger zwischen den Fingern hielt. Dann ließ er ihn
los, und der winzige Stein fiel zurück auf meine Haut. Wieder berührte er ihn. Ich sah ihm in die Augen, er war Millionen von Kilometern entfernt.
    Ich zog die Zeitschrift aus der Tasche und reichte sie ihm.
    Verständnislos betrachtete er die Titelseite. »Der Rolling Stone ?«
    »Schlagen Sie Seite dreiundsechzig auf.«
    Noch einen Moment lang sah er mich an und schien etwas sagen zu wollen, doch dann fing er an zu blättern. Die obere Hälfte des doppelseitigen Artikels zeigte ein Foto der Band Potrero Sound Station. Die Überschrift lautete: »Billy Boudreaux’ letzter Akt«. Darunter stand in einer kleineren Schrift der Name des Autors, Ben Fong-Torres. Ben hatte seine Beziehungen spielen lassen und den Bericht in der letzten Minute noch ins Heft gebracht.
    »Was ist das?«, wollte Peter wissen.
    »Sehen Sie sich den Bassisten an.« Ich hatte das Foto so lange studiert, dass es sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hatte. Im Vordergrund war Kevin Walsh, der das Mikro so nah an seinen Mund hielt, dass es aussah, als würde er es gleich verschlucken. Billy stand im Schatten, das Gesicht kaum zu erkennen. Doch in der Bühnenbeleuchtung konnte man seine kräftigen Arme sehen, die Finger über den Saiten schwebend. »Das ist Billy Boudreaux.«
    Peter hob den Kopf und sah mich an. »Ich verstehe nicht.«
    »Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich. »Ich warte draußen.«
    Ich ging auf die Veranda. Hob das Bündel Bleistifte auf und atmete den holzigen, sauberen Geruch ein. Zwanzig Minuten blieb ich dort draußen, sah Hunde vorbeilaufen, suchte in den Ästen nach Vögeln, bis ich die Bettfedern knirschen hörte. Peter kam heraus und stellte sich neben mich. »Woher kam das?«, fragte er leise.

    »Das ist eine lange Geschichte.«
    Ein paar Minuten lang standen wir nur da und blickten auf die Straße. Es fing an zu regnen. Die Tropfen waren riesengroß und hinterließen dicke Flecken auf der roten Erde vor dem Haus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hoffte, er wusste, dass ich mich auf eine gewisse Art für das verantwortlich fühlte, was mit ihm passiert war. Ich hoffte, er verstand, dass dies das Beste war, was ich zu tun vermochte.
    »Sie könnten jetzt nach Hause«, sagte ich. »Es kam in den Nachrichten, wissen Sie. Ich glaube, es gibt einige Leute, die sich bei Ihnen entschuldigen möchten.«
    »Eines Tages vielleicht. Im Augenblick ist das hier mein Zuhause.«
    »Die Zahlen«, sagte ich, »auf den Steinplatten. Was bedeuten sie?«
    »12-9-12-1«, sagte er. »L-i-l-a. Ich habe acht Steine verwendet und es zweimal buchstabiert, weil die Acht für die Unendlichkeit steht.«
    »Das würde ihr gefallen.«
    Er lachte kurz. »Offen gestanden glaube ich, sie fände das beunruhigend sentimental. Aber andererseits habe ich viel Zeit zur Verfügung. Man kann schon sentimental werden, wenn man zu lange am Ende einer verlassenen Straße wohnt.«
    Er trat näher und legte einen Arm um meine Schultern, nur ganz kurz, dann ließ er ihn wieder sinken. »Als ich dich das erste Mal im Ort sah«, erzählte er, unvermittelt zur vertraulichen Anrede wechselnd, »standest du an einem Obststand, mit dem Rücken zu mir. Es konnte jeden Moment anfangen zu regnen. Ich merkte, dass du eine Fremde warst und wollte dich ansprechen und dir raten, dir ein trockenes Plätzchen zu suchen, um das Gewitter abzuwarten. Ausländer sind
immer so überrascht von dem Regen. Er fällt so heftig und so schnell, dass man kaum Zeit hat, ihm zu entkommen. Dann hörte man einen Donnerschlag. Was dich erschreckte. Du drehtest dich um und sahst in den Himmel. Und eine Sekunde lang, oder vielleicht zwei, glaubte ich, dass alles, was sie über Diriomo erzählen, wahr ist. Ich glaubte, dass es wirklich ein pueblo brujo ist, ein verhextes Dorf. Denn in diesem Augenblick, als du den Kopf gen Himmel wandtest, dachte
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